Der Anfang: «Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt, fünfundvierzig Jahre vorher, um genau zu sein, an der Universität in Graz. Dort hatte ihr Großvater, ein Mann namens Angelo Mazzerini, während seines Studiums der Rechtswissenschaften die verbotenen Schriften von Cesare Battisti gelesen, und von da an verehrte er die Karstlandschaft Istriens als heiligen Boden, hasste er das Imperium, den österreichischen Kaiser und seine Henker. Für den Studenten aus Triest fand jede Frage ihre Antwort in der Geschichte, und mit Barzini sah er seine Heimatstadt als Bollwerk der römischen Zivilisation. Ohne den Abwehrkampf an der Adria hätten die Slawen längst das Abendland überrannt. Die Habsburger, deren Untertan er war, stützten diese Horden mit ihrem Geld, ihren Waffen und ihren Gerichten. Italiener wie er, Abkömmlinge eines Weltreichs, hatten im Himmel einen Verbündeten, auf Erden standen sie seit fünfzehnhundert Jahren alleine im Kampf gegen die Vernichtung.»
Man könnte den Roman mit einem Satz zusammenfassen: Das unglückliche Leben der Adelina und die Sprachlosigkeit der Väter. Die Tochter italienischer Einwanderer arbeitet in einer Zürcher Fabrik, als sie Toto kennenlernt, der sie schwanger sitzen lässt. Sie kämpft ums Überleben und arbeitet hart, hat viele Jobs, alles unterbezahlt – es reicht gerade dazu, nicht verhungern zu müssen. Als sie ihre Stelle und die Wohnung verliert, lernt sie Emil kennen, einen erfolgreichen Grafiker, der ihre Schulden bezahlt und Adelina mit der kleinen Emma bei sich aufnimmt. Es ist ein Abkommen – denn Liebe verspürt Adelina für Emil nicht. Er kauft ein Anwesen in den Bergen des Piemont, einen Rückzugsort, um neu anzufangen, was Adelina so gar nicht gefällt. Doch mit diesem heruntergekommenen Haus wird das Leben von Adelina noch einmal völlig durcheinandergeraten.
«Sie verstehe die Sorgen der Eltern, aber man dürfe einen Menschen nicht nach seinen Schwächen beurteilen, es seien die Stärken, die man fördern müsse, und sie wolle keine Prognose wagen, aber in der Kleinen schlummere eine Künstlerin, die der Entfaltung harre.»
Ein Roman über die Zeit im Zürich der 1960er- und 1970er-Jahre, wobei Lukas Bärfuss zu Beginn des Romans geschichtlich zurückschreitet zu den Großeltern und Eltern Adelinas. Der Großvater verehrt den italienischen Nationalisten Cesare Battisti, beginnt durch ihn alles Slawische zu hassen und zieht mit Stolz in den Krieg. Später ist er ein Anhänger Mussolinis, schickt den vermeintlich schwachen Sohn Mario in den Krieg, hofft, dass er sterben wird. Später bereut er alles, auch seine Einstellung zu den Faschisten. Er schämt sich, kann seine Fehler vor dem Sohn nicht eingestehen, und zieht sich zurück. Mario, Ingenieur der Landvermessung, lässt sich mit seiner Frau in die Schweiz locken, wo man überall nach Arbeitskräften sucht. Doch der Mann, der ihn vermitteln wollte, lässt ihn hängen, und das Arbeitsamt hat für Mario nur Aushilfsjobs als Arbeiter. Er ist eben einer dieser Italiener. Dann wird er arbeitslos, fängt an zu schreiben, zu recherchieren in historischen Dingen, kann sich damit über Wasser halten. Die kleine Adelina zeigt sich als intelligent, aber mit dem Lesen und Schreiben bekommt sie es nicht auf die Reihe. Der Vater ist grantig – schreiben, das muss man lernen! Eine Grundschullehrerin versteht Adelina, ermahnt die Eltern, sie nach ihren Stärken zu beurteilen. Doch die geht bald in Rente. Der Vater zieht sich enttäuscht vom Leben weiter ins Innere zurück, zu seinen geliebten Büchern. «Die Blödheit seiner Tochter war dabei die schlimmste Strafe. … Ein Mensch ohne Buchstaben konnte nicht denken … er nahm es persönlich, er glaubte, seine Tochter wolle ihn bestrafen.» Er verstirbt verbittert mit mehr als 9000 Franken Schulden. Die Mutter lässt die junge Adelina mit den Verbindlichkeiten hängen, haut mit ihrem Liebhaber nach Italien ab.
«Die Monate gingen dahin, der Sommer wich dem Herbst, und als die Tage kürzer, aber noch warm waren, mittags das Licht brüchig und golden wurde, als die Morgenluft das Gesicht kühlte und ihr die Ahnung und die Hoffnung auf ein anderes Leben ins Herz legte, da unterlief Adelina ein Fehler, für den sie ihr Leben lang bezahlen sollte.»
Adelina muss die Schuld abbezahlen. Und darum muss sie nun die Ausbildung zur Flickschusterin abbrechen. In der Suppenfabrik kann sie Geld verdienen. Es reicht gerade so zum Überleben. Doch dann wird sie schwanger. Die Krume Brot – wo soll sie herkommen? Als Analphabetin und Italienerin (auch wenn sie in Zürich geboren wurde) hat sie kaum die Chance, einen halbwegs gut bezahlten Job zu erhalten. Herkunft und Bildung zählen in unserer Gesellschaft – ein kapitalistisches System, das den Einstieg und den Aufstieg nach oben permanent verhindert. Wenn beides bereits mit einem roten Stempel im Lebenslauf versehen ist, wird es schwierig. Und wenn zusätzlich eine falsche Entscheidung zu einem weiteren «Makel» führt, dann ist alles vorbei. Aber was sind falsche Entscheidungen? Adelina wird im Verlauf noch ein paar Mal ins Fettnäpfchen treten. Genau das macht den Roman so spannend.
«Die Akquisitionsgespräche ödeten ihn an, dieser ganze Affentanz, den er um die Kleingewerbler zu vollführen hatte, die Spießbürger, die nur in Franken und Rappen dachten, ausschließlich, ein Volk von Sparfüchsen und Rabattjägern …»
Schauen wir zurück in die Schweizer Geschichte und vergleichen wir mit dem Jetzt. In den 50-ern und 60-ern benötigte die Schweiz viele Arbeitskräfte, die sie selbst nicht hatte – besonders in den Fabriken und einfachen Arbeiten. So kamen die Italiener zu Hauff ins Land. Die Nationalisten schrien auf! 1963 wurde von Albert Stocker in Zürich eine «Anti-Italiener-Partei», die Schweizerische überparteiliche Bewegung zur Verstärkung der Volksrechte und der direkten Demokratie, gegründet. 1970 folgte die Schwarzenbach-Initiative, ein Gesetz, dass die Schweiz vor «Überfremdung» schützen sollte, indem der Anteil ausländischer Bevölkerung in jedem einzelnen Kanton die 10-%-Hürde nicht hätte überschreiten dürfen. Das wurde vom Volk mit 54 Prozent Nein abgelehnt. Und heute haben wir die SVP, die unermüdlich mit Initiativen zu verhindern sucht, dass Arbeitskräfte ins Land kommen. Arbeitskräfte, die gebraucht werden. Da hat sich nichts geändert. Das Schicksal von Adelinas Familie steht als Beispiel für die Migration. Der Migrant steht ganz unten auf der Leiter der zur Verfügung stehenden Arbeitsplätze – besonders die Frauen; noch schlimmer, soweit sie alleinerziehend sind. Armut kann ein Leben ruinieren. Was macht das mit einem Menschen. Was macht das mit ihm, wenn er in Not gerät? Aber der Autor will es uns Lesende nicht einfach machen. Die Herkunft allein verantwortlich zu machen für das Leben, das wäre zu billig. Adelina wird an manchen Kreuzungen des Lebens Entscheidungen treffen müssen. Welche trifft sie rational – und welche, wenn eine Verlockung die Wege kreuzt? An welcher Stelle ist sie falsch abgebogen? Wo trifft uns selbst die «Schuld» in unserem Leben – und hätte man ahnen können, was darauf folgt?
«Unglücke geschahen keine, das Leben war das Unglück, es floss dahin und kannte nur eine Richtung, hin zur allmählichen Zermürbung.»
Bereits der erste Satz des Romans leitet das Drama ein. Sprachlich nuanciert und mit absoluter Empathie für seine Figuren schildert Lukas Bärfuss die Geschichte von Adelina, die ihrer Familie. Hier ist kein Satz zu viel. Die Erzählung beginnt geruhsam mit der Familiengeschichte, nimmt immer mehr Tempo auf und reitet zum Ende im Galopp, so dass der Lesende berauscht das Buch nicht mehr aus der Hand legen mag. Authentisch, sprachlich eine Perle, ein kraftvoller Text mit Nachhall. Ich verrate nicht mehr als der Klappentext, nur so viel noch: Adelina wird mit Italiens Linksextremisten in Kontakt kommen. Es ist der Auftakt zu einer Trilogie – und ich bin gespannt, wie diese Geschichte weitergeht!
Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun, ist Dramatiker, Romancier und streitbarer Publizist. Seine Stücke werden weltweit gespielt, die Romane sind in zwanzig Sprachen übersetzt. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Für seine Werke wurde er u. a. mit dem Berliner Literaturpreis, dem Schweizer Buchpreis und dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.