Verlag: Manesse.
Umfang (Geb. Ausgabe): 256 Seiten.
Inhalt:
Im von gesellschaftlichen Skandalen und Exzentrik geprägten Moskau am Vorabend der Revolution wächst der Protagonist und Ich-Erzähler Wadim Maslennikow bei seiner verwitweten Mutter in armen Verhältnissen auf. Wadim bestiehlt seine Mutter, schlägt sie und lässt sie seinen Hass und seine Ablehnung spüren, bis sie sich schließlich erhängt. Seine Tage und Nächte verbringt Wadim in Moskauer Bars, er verkehrt mit Prostituierten, infiziert ein junges Mädchen mit Syphilis und demütigt seine einzige Liebe. Wadim verfällt immer mehr seiner Kokainsucht, er ist zerrissen zwischen emotionalen Hochs und Tiefs, zwischen Mutter-Hass und Selbsthass und verzweifelt an der Unvereinbarkeit von Körper und Geist. Die Droge wird schließlich seine einzige und ideale Geliebte, fähig, ihm Glücksmomente zu suggerieren, während er tatsächlich dem paranoiden Wahnsinn und Tod entgegentreibt.
Zum Schluss holt Wadim die Weltgeschichte (in Form der Oktoberrevolution) ein, die ihm die weiße Freundin erspart hatte. Sein ehemaliger Mitschüler Burkewitz, der es mit eiserner Disziplin zum Sowjet-Kommissar gebracht hat, verweigert Wadim die Aufnahme in ein Sanatorium und damit die Rettung. Er sei von keinem Wert für die Revolution.
Im Epilog berichtet ein Moskauer Arzt, dass Wadim Maslennikow mit einer Überdosis Kokain Selbstmord verübt habe. In seiner Tasche fanden sich seine in ein Tuch eingenähten ‚Erinnerungen’.
Erzählzeit: Vergangenheit.
Erzählperspektive: Ich-Erzähler Wadim Maslennikow
Setting: Moskau.
Anstelle meiner üblichen Analyse von Sprache und Duktus ein Zitat aus dem Roman, das für sich selbst spricht:
"Hinter dem Fenster begann das benachbarte Haus Falten zu werfen. Sein Schornstein riss sich los und zerfiel nass im metallischen Himmel. Ich gab mir keine Mühe, die Tränen wegzublinzeln, die meine Augen füllten."
Der Autor – eine Spurensuche:
Genauso interessant wie die psychische Pathologie des Protagonisten ist die Suche nach seinem Erschaffer. Sie hätte perfekt in Woody Allens Paris-Ode ‚Midnight in Paris’ gepasst.
Das erstmals 1936 in einem Pariser Verlag für russische Exil-Schriftsteller erschienene Werk war gut vierzig Jahre lang in Vergessenheit geraten, als die russischstämmige Französin Lydia Chweitzer ein Exemplar des Romans bei einem Bouquinisten an den Ufern der Seine wiederentdeckte. Sie war von der Lektüre des Buches, das sie bereits aus ihrer Jugend kannte, so begeistert, dass sie den Roman ins Französische übersetzte, um ihn einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Ihre französische Edition war der Ausgangspunkt für weitere Übersetzungen und für den späten internationalen Erfolg des Romans. Auch eine deutsche Ausgabe erschien Mitte der 80er Jahre bei Rowohlt. Sie wurde von Daniel Dubbe übersetzt – allerdings aus der französischen Version, nicht aus dem russischen Original des Autors. Dieses Versäumnis wurde nun vom Manesse Verlag nachgeholt.
Doch wer steht eigentlich hinter dem Pseudonym M. Agejew? In ihrem Vorwort konnte Lydia Chweitzer damals nur Anhaltspunkte über den Autor nennen. Der Roman sei ursprünglich in einem russischen Emigranten-Magazin in Paris erschienen. Das Manuskript habe der Autor offenbar aus Konstantinopel an den Verleger geschickt.
Viele vermuteten Nabokov hinter dem Pseudonym. Diese-Spur erwies sich jedoch als ‚Wishful Thinking’. Vera Nabokov, die Witwe des weltberühmten Autors kommentierte: "Mein Mann hat den '’Roman mit Kokain’’ nicht geschrieben, das Pseudonym Agejew nie benutzt ... Er war nie in Moskau, hat nie Kokain genommen und schrieb, im Gegensatz zu Agejew, ein sauberes und korrektes Petersburger Russisch.“
Eine weitere Spur wies in Richtung der Exil-Russin Lidija Tscherwinskaja, die Agejew gekannt haben sollte. Ein Freund der Frau, der Pariser Slawistik-Professor Rene Guerra, kannte ihr Domizil: ein Altersheim in der Nähe von Paris.
Lidija Tscherwinskaja, die 1907 in Kiew geboren wurde, emigrierte 1919 mit ihren Eltern nach Konstantinopel. Später zog sie nach Paris und gehörte schnell zur intellektuellen Bohème am Montparnasse, dem bevorzugten Viertel der Exil-Russen, die vor der Oktoberrevolution geflohen waren. Ein Mitarbeiter des Emigranten-Magazins, das den Roman veröffentlicht hatte, bat 1934 die Russin Kontakt zu Agejew in Konstantinopel aufzunehmen, da sie weiterhin regelmäßig ihre Eltern dort besuchte, und mit der Örtlichkeit vetraut war. Die Adresse, die man ihr nannte, führte Lidija Tscherwinskaja schließlich zu einer Nervenheilanstalt im jüdischen Viertel von Konstantinopel. Agejew, ein russischer Jude, der tatsächlich Mark Levi hieß, wurde im Sanatorium wegen „Zittern der Hände" und „Halluzinationen" behandelt. Der Russin gelang es, dem Autor in einer Buchhandlung einen Job zu vermitteln. Natürlich verliebten sich die beiden. Wie Woody Allen diesen hollywoodreifen Fall übersehen konnte, ist mir ein Rätsel.
Lidija Tscherwinskaja erzählte, dass Mark Levi im Bürgerkrieg einen Offizier der Roten Armee erschossen hatte. Danach sei er aus Russland nach Berlin geflohen, das damals rund 500.000 Exilrussen beherbergte. Während seiner Zeit in Berlin schrieb Mark Levi ‚Roman mit Kokain’ unter dem Pseudonym M. Agejew. Nach ihrer kurzen Affäre bestieg Lidija Tscherwinskaja den Orientexpress in Richtung Paris und hatte nie wieder Kontakt zu Mark Levi. Aktuelle Nachforschungen haben ergeben, dass Levi wahrscheinlich 1973 im armenischen Jerewan starb. Er hatte offenbar in die Sowjetunion zurückkehren dürfen, weil er sich 1942 an einem Attentat auf den deutschen Botschafter in Ankara beteiligte.
Persönliches Fazit:
Die Story hinter der Story ist fast so gut wie der Roman selbst. Fast. ‚Roman mit Kokain’ ist eine absolute Lese-Empfehlung. Der psychisch en détail sezierte Protagonist, der dramaturgisch perfekte Plot und die sprachgewaltige Ausgestaltung gehen eine perfekte Symbiose ein.