M. Sükrü Hanioglu

 4,5 Sterne bei 2 Bewertungen
Autor*in von Atatürk.

Lebenslauf

M. Şükrü Hanioğlu ist Professor für spätosmanische Geschichte und Garret Professor für auswärtige Angelegenheiten am Department of Near Eastern Studies der Princeton University. Seinen B.A. in Political Science and Economics sowie seinen Ph.D. in Political Science erlangte er an der Istanbul University. Er lehrte außerdem an den Universitäten Istanbul und Bosphorus, an der Turkish Naval Academy sowie an den Universitäten von Columbia, Wisconsin und Michigan.

Quelle: Verlag / vlb

Alle Bücher von M. Sükrü Hanioglu

Cover des Buches Atatürk (ISBN: 9783806242089)

Atatürk

 (2)
Erschienen am 19.05.2021

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Cover des Buches Atatürk (ISBN: 9783806242089)
A

Rezension zu "Atatürk" von M. Sükrü Hanioglu

Der Vater der modernen Türkei
Andreas_Oberendervor 4 Jahren

Der Gründervater der modernen Türkei, Mustafa Kemal, genannt Atatürk, gehört zu den faszinierendsten Politikern des 20. Jahrhunderts. Sein Leben und Wirken bietet ohne Weiteres Stoff für eine mehrbändige Biographie. Am Buch des türkisch-amerikanischen Politikwissenschaftlers Sükrü Hanioglu fällt zunächst einmal der handliche Umfang auf. Hanioglu hat keine konventionelle Atatürk-Biographie geschrieben. Er konzentriert sich auf Atatürks intellektuellen Werdegang und vermittelt lediglich das nötige Mindestmaß an biographischen und allgemeinhistorischen Fakten bzw. Hintergrundinformationen (die englische Originalausgabe trägt den Untertitel "An Intellectual Biography"). Bis heute gilt Atatürk als Paradebeispiel eines "Modernisierers", eines Politikers, der sein Land, sein Volk, seine Kultur für "rückständig" und "unterentwickelt" hält und daher eine umfassende Modernisierung in Angriff nimmt, die sich am Vorbild der westlichen Moderne orientiert. Hanioglu interessiert sich vor allem für zwei Fragen: Wie entwickelte Atatürk seine politischen Anschauungen; welche intellektuellen Einflüsse und Anregungen nahm er auf? Und wie setzte er seine ehrgeizigen Pläne, die Türkei zu modernisieren, in die Tat um, nachdem das multiethnische Osmanische Reich untergegangen und an seiner Stelle ein türkischer Nationalstaat entstanden war? In der Einleitung kritisiert Hanioglu, dass auch heute noch zu viele Bücher und Studien über Atatürk hagiographische Züge tragen. Hanioglu versteht sein Werk als Beitrag zu einer konsequenten Historisierung des Staatsgründers. Er möchte Atatürk nicht als genialen Übermenschen verstanden wissen, sondern als "normalen" Politiker mit Stärken und Schwächen, der von seiner Umwelt geprägt und geformt wurde, der als Produkt einer bestimmten Zeit und bestimmter sozialer Milieus anzusehen ist.

Hanioglus Buch ist kein Ersatz für eine umfassende Atatürk-Biographie. Wer sich eingehend über das Leben - auch das Privatleben - Atatürks und über die Entstehung der modernen Türkei informieren will, der muß andere Werke konsultieren. Knapp und prägnant schildert Hanioglu Mustafa Kemals Werdegang bis zum Untergang des Osmanischen Reiches (Kap. 1 bis 4). Geboren in der kosmopolitischen Hafen- und Handelsstadt Thessaloniki, durchlief Kemal eine solide Ausbildung in säkular ausgerichteten Schulen und militärischen Bildungsanstalten. Er diente als Generalstabsoffizier und Heerführer. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges hielt er sich aus der Politik heraus, obgleich er lebhaft an politischen Fragen interessiert war. Seine Sozialisation vollzog sich vor dem Hintergrund der lähmenden Dauerkrise, in der das Osmanische Reich seit Jahrzehnten steckte. Das morsche Imperium der Sultane konnte im Konkurrenzkampf der europäischen Großmächte schon lange nicht mehr mithalten. Sein Fortbestand war zweifelhaft; über seiner Zukunft hing ein Fragezeichen. Mustafa Kemal gehörte zu einer ganzen Generation von türkischen Offizieren, Beamten und Intellektuellen, die das Überleben des Reiches durch eine umfassende Modernisierung nach westlichem Vorbild sicherstellen wollten. Wollte das Osmanische Reich weiterbestehen, so musste es den sozioökonomischen Entwicklungsrückstand gegenüber Europa aufholen. Notwendig war eine sogenannte "nachholende Modernisierung": Entwicklungen, die sich in Europa über lange Zeit hinweg vollzogen hatten, sollten im Osmanischen Reich - bzw. später in der Türkei - binnen kurzer Zeit nachgeholt werden. Mit der Auffassung, dass die Türken unbedingt den Anschluss an die westliche Moderne finden müssten, stand Kemal nicht allein. Wie Hanioglu betont, griff Kemal viele Ideen und Anschauungen auf, die um 1900 in den gebildeten Schichten des Osmanischen Reiches en vogue waren. Hanioglu untersucht, welche Bücher Kemal las, welche Ideen und ideologischen Versatzstücke Eingang in seine Weltanschauung fanden (Atheismus, Materialismus, Szientismus, Sozialdarwinismus).

Mustafa Kemals Stunde schlug nach dem Ersten Weltkrieg. Kemal setzte sich an die Spitze der Nationalbewegung, die aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches einen türkischen Staat formte. Dieser Nationalstaat wurde zum Experimentierfeld, auf dem der Staatsgründer seine Modernisierungspläne umzusetzen versuchte (Kap. 5 bis 8). Mehr denn je war Kemal davon überzeugt, dass die Türken mit der traditionellen islamischen Kultur brechen und sich der westlichen Zivilisation öffnen mussten, wenn sie im Daseinskampf der Völker und Nationen bestehen wollten. Unter Modernität und Zivilisation verstand Kemal Atheismus, ein wissenschaftliches Weltbild, einen Staatsaufbau nach rationalen Kriterien. Er verfolgte muslimische Gläubige und Geistliche nicht, setzte aber alles daran, den Islam so weit wie möglich aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. Religiosität war für ihn das Kennzeichen "orientalischer Rückständigkeit" schlechthin. Nach den städtischen Eliten sollte sich endlich auch das einfache Volk auf dem Lande den vermeintlich überlegenen Errungenschaften des Westens öffnen. Paradoxerweise verherrlichte Kemal die westliche Zivilisation, obwohl seine persönliche Kenntnis der westlichen Welt minimal war. Modernisierung war für Kemal Verwestlichung. Seine Gesetze zielten darauf ab, der Türkei und den Türken ein westliches Antlitz zu verpassen: Schrift- und Kalenderreform; Frauenemanzipation; Einführung von Familiennamen; Umbau von Verwaltung und Justiz nach europäischem Vorbild. Hanioglu verschweigt nicht die Schattenseiten dieser nachholenden Modernisierung. Kemal, dem 1934 der Ehrentitel Atatürk ("Vater der Türken") verliehen wurde, war zwar kein Diktator oder Tyrann, hatte aber ein autoritäres Politik- und Herrschaftsverständnis. Kritik an seinen Ideen und Vorstellungen duldete er ebenso wenig wie Parteienpluralismus. Die Türkei der Zwischenkriegszeit war ein Einparteistaat, in dem ein rechthaberischer und oberlehrerhaft auftretender Präsident alle Zügel straff in der Hand hielt. Atatürk drückte dem Land seinen persönlichen Stempel auf, im Guten wie im Schlechten. Manche seiner Maßnahmen wirken aus heutiger Sicht bizarr und unfreiwillig komisch. Der Präsident war sich nicht zu schade, selbst in die Dörfer Anatoliens zu gehen, um den Bauern das neue lateinische Alphabet beizubringen. Er ließ Schönheitswettbewerbe und Miss-Wahlen veranstalten, um die Frauenemanzipation voranzutreiben. Sein Bemühen, den Türken Nationalbewusstsein und Stolz auf die Geschichte ihrer Vorfahren anzuerziehen, verleitete ihn zur Zusammenarbeit mit dubiosen Pseudowissenschaftlern und Scharlatanen (Kap. 7). Alles in allem zeichnet Hanioglu ein wenig schmeichelhaftes Bild von Atatürks intellektuellen Fähigkeiten. Der Staatsgründer, der nie eine Hochschulausbildung genossen hatte, blieb zeitlebens ein Autodidakt und Dilettant. Atatürk las zwar viel und schnappte eine Fülle von Ideen und Gedanken auf, aber er entwickelte nie eine kohärente Ideologie und hinterließ auch keine Schriften, die man noch heute mit Gewinn lesen könnte. Er war ein Mann der Tat, kein tiefschürfender Denker oder Theoretiker. Hanioglus Verdienst besteht darin, dass er Atatürk auf Normalmaß zurückstutzt.

Atatürk starb relativ früh, mit kaum 60 Jahren. Sein Werk, so man diesen Begriff verwenden möchte, blieb unvollendet. Er wollte zu viel in zu kurzer Zeit erreichen, ein Dilemma vieler Modernisierer. Hanioglu schildert anschaulich und quellennah, wie Atatürk seine politischen Ideen entwickelte und wie er als Präsident seine Modernisierungspläne umzusetzen versuchte. Ungeachtet aller Vorzüge gibt es an dem Buch auch einiges zu kritisieren. Es fehlt ein vergleichender Blick auf andere Beispiele nachholender Modernisierung im 19. und 20. Jahrhundert (z.B. Japan, Sowjetunion, Südkorea). Davon hätte das Buch ungemein profitiert. Es fallen etliche thematische Lücken auf. Hanioglu sagt merkwürdigerweise nichts über Alphabetisierungskampagnen und den Aufbau des türkischen Bildungswesens in den 1920er und 1930er Jahren. Dabei kann die Modernisierung nur gelingen, wenn mehrere Generationen einer Bevölkerung ein säkularisiertes Schul- und Hochschulsystem durchlaufen. Bedauerlich ist ferner, daß Hanioglu mit keinem Wort auf Atatürks Wirtschaftspolitik eingeht. Auch wenn Atatürk kein Experte in Wirtschaftsfragen war, so erkannte er doch den engen Zusammenhang zwischen Modernisierung und Industrialisierung. Moderne Gesellschaften sind immer Industriegesellschaften. Nichts verändert eine Gesellschaft so nachhaltig wie der Übergang zur industriellen Wirtschaftsweise. Dessen war sich Atatürk sehr wohl bewusst, und deshalb nahm er die Industrialisierung der Türkei in Angriff, ein Vorhaben, das nur dürftige Resultate erbrachte. Eine Industrialisierung auf breiter Front gelang zu Atatürks Lebzeiten nicht; die Türkei blieb im Wesentlichen ein Agrarland. In diesem Zusammenhang würde man als Leser gerne erfahren, ob Atatürk in den 1920er und 1930er Jahren die Entwicklungen in der Sowjetunion verfolgte und analysierte (z.B. die von Stalin eingeleitete forcierte Industrialisierung). Auch darüber sagt Hanioglu nichts. Atatürk gewann Ideen und Anregungen keineswegs nur aus den Büchern, die er las. Sein Entschluss, die türkische Wirtschaft einer straffen staatlichen Lenkung zu unterstellen und mit Hilfe von Fünfjahrplänen zu entwickeln, war vom sowjetischen Modell inspiriert. Kurz und gut, auch Aspekte wie Bildungswesen und Wirtschaftspolitik hätten in einer Studie über den Modernisierer Atatürk Berücksichtigung finden müssen. 

(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im November 2015 bei Amazon gepostet)

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