Rezension zu "Heinrich IV." von Madeleine M. L. Saint-Rene Taillandier
Heinrich IV. (1553-1610), der erste König aus dem Haus Bourbon, gehört zu den bekanntesten Monarchen der französischen Geschichte. Sein Leben und seine Herrschaft wurden schon im 19. Jahrhundert intensiv erforscht. Generationen französischer Historiker trugen dazu bei, dass sich im Geschichtsbewusstsein der Franzosen das romantische Bild vom fürsorglichen Volkskönig verfestigte, welches schon bald nach Heinrichs gewaltsamem Tod entstanden war. So oft die politischen Verhältnisse im 19. und 20. Jahrhundert auch wechselten, die Beliebtheit Heinrichs IV. blieb ungemindert. Die fach- und populärwissenschaftliche Literatur über Heinrich IV. ist so umfangreich, dass sie sich heute nur noch schwer überblicken lässt. Ein Meilenstein der Heinrich-Forschung war die gewichtige Biographie des Historikers Jean-Pierre Babelon von 1982. In der kommentierten Bibliographie seines Buches listete Babelon nicht weniger als 32 Biographien auf, die er für bedeutend und lesenswert hielt. Acht dieser Biographien stammen aus dem 19. Jahrhundert. Seit 1982 sind in Frankreich viele weitere Biographien Heinrichs IV. erschienen. Beachtung verdienen in erster Linie die Werke von Fachhistorikern wie Janine Garrisson (1984) und Jean-Marie Constant (2010). Zu den seriösen und anspruchsvollen Werken über Heinrich IV. zählt auch die Biographie des amerikanischen Historikers Vincent Pitts von 2009. Nur ein kleiner Bruchteil der älteren und neueren Heinrich-Literatur französischer oder angelsächsischer Provenienz ist deutschen Lesern zugänglich. Die letzte Übersetzung einer Biographie Heinrichs IV. ins Deutsche liegt mehr als 30 Jahre zurück. Werke aus der Feder deutscher Autoren können sich nicht mit den Arbeiten französischer Historiker messen. Die Heinrich-Biographie von Uwe Schultz (2010) ist ein Ärgernis wie alle Bücher dieses Autors, und der schmale Band von Klaus Malettke (2019) ermöglicht nur eine erste Annäherung an Heinrich IV. Deutsche Leser, die französisch- und englischsprachige Werke nicht im Original lesen können, haben keine andere Wahl, als auf einige ältere Werke in deutscher Übersetzung zurückzugreifen. Es handelt sich um die Biographien von Madeleine Saint-René Taillandier (1934/37), Maurice Andrieux (1955) und André Castelot (1986). Die Zeiten, als Bücher französischer Historiker und Sachbuchautoren in großer Zahl ins Deutsche übertragen wurden, sind lange vorbei. Übersetzungen aus dem Französischen haben heute Seltenheitswert, wie jeder weiß, der sich für die Geschichte unseres westlichen Nachbarlandes interessiert.
Madeleine Saint-René Taillandier (1865-1959) war eine vielfach preisgekrönte Schriftstellerin und Journalistin. Ihre zweibändige Biographie Heinrichs IV. erschien in den Jahren 1934 und 1937. Noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges brachte der Münchener Callwey-Verlag eine deutsche Übersetzung in einem Band heraus. Bis in die 1980er Jahre hinein wurde die Biographie immer wieder neu aufgelegt. Die Ausgabe von 1975 versah der Verlag mit einem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis, das den Forschungsstand der frühen 1970er Jahre widerspiegelt. In den 1990er Jahren gab Callwey seine Biographien an den Diederichs-Verlag ab. Die letzte Ausgabe der Heinrich-Biographie erschien 2004. Die Autorin wäre sicher sehr verwundert, wenn sie wüsste, dass ihr Werk 70 Jahre nach der Erstveröffentlichung in Deutschland noch einmal aufgelegt wurde. Auch wenn von vornherein klar ist, dass die Biographie aufgrund ihres hohen Alters für den wissenschaftlichen Gebrauch nicht in Frage kommt, darf man das Buch auf keinen Fall als wertlos abtun. Allein um des Lesegenusses willen verdient es auch heute noch gelesen zu werden. Saint-René Taillandier war eine großartige Erzählerin. Hermann Rinn (1895-1974), Lektor, Übersetzer und Verleger, hat die Qualitäten des Originals in seiner Übertragung meisterhaft wiedergegeben. In darstellerischer Hinsicht bewegt sich die Biographie auf einem Niveau, das sowohl Fachhistoriker als auch Sachbuchautoren heutzutage nicht mehr erreichen. Die Biographie ist durchgehend im historischen Präsens geschrieben, ein stilistischer Griff, der in Frankreich bekanntermaßen gerne angewendet wird, vor allem in Biographien. Das historische Präsens hebt die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf und stellt eine Nähe zu den Akteuren und Ereignissen her, die den Leser bannt und fesselt. Dank ihrer enormen erzählerischen Vorzüge wirkt die Biographie verblüffend frisch und unangestaubt. Auszüge aus dem Buch wären ein gutes Anschauungsmaterial, um heutigen Studierenden des Faches Geschichte die schwierige Kunst des historischen Erzählens nahezubringen.
Der erste Teil der Biographie reicht bis zum Frühjahr 1594, als mit dem Einzug Heinrichs IV. in Paris das Ende der jahrzehntelangen Religionskriege in greifbare Nähe rückte. Im zweiten Teil schildert die Autorin die endgültige Befriedung Frankreichs und die Regierung des Königs bis zu seiner Ermordung 1610. Während die 33 Kapitel des ersten Teils Heinrichs Leben bis 1594 in streng chronologischer Abfolge behandeln, sind die 12 Kapitel des zweiten Teiles schwerpunktmäßig ausgewählten Themen gewidmet. Die Schwerpunktsetzung überrascht bisweilen. So geht Saint-René Taillandier ausführlich auf Reformen im Bildungswesen und die Anfänge der innerkatholischen Erneuerungsbewegung ein. Anderes bleibt unterbelichtet, etwa Frankreichs Außenpolitik zu Beginn des 17. Jahrhunderts, die Sanierung der zerrütteten Staatsfinanzen und die Wiederaufrichtung der Wirtschaft. Saint-René Taillandier stützt sich auf die wissenschaftliche Sekundärliteratur, die um 1930 schon sehr reichhaltig war, und an Quellen nutzt sie edierte Materialien wie Memoiren und Briefe. Es wäre unredlich, das Buch mit heutigen wissenschaftlichen Maßstäben zu messen. Die Autorin praktiziert die „klassische“ Methode biographischen Erzählens, was aus heutiger Sicht altmodisch wirken mag. Es geht ihr um eine plastische, anschauliche Schilderung historischer Ereignisse und um eine psychologisch glaubhafte Charakterisierung der Akteure. Mit hohem Einfühlungsvermögen macht Saint-René Taillandier Denken und Handeln der Figuren verständlich. Sie zeigt Heinrich in einem Geflecht persönlicher und politischer Beziehungen. Der Kreis der Hauptfiguren bleibt dabei angenehm überschaubar. Die Autorin konzentriert sich auf Heinrichs Ehefrauen und Mätressen und den wichtigsten Mitstreiter und Ratgeber des Monarchen, Maximilien de Béthune, Herzog von Sully (1559-1641). Der engen, aber nicht immer einfachen Freundschaft und Arbeitsbeziehung zwischen König und Minister widmet Saint-René Taillandier Passagen, die auch den heutigen Leser bewegen, ja anrühren. Wie viele andere Biographen vor und nach ihr zeigt die Autorin Heinrich IV. als pragmatisch denkenden und handelnden Versöhner, dem die Verteidigung der nationalen Einheit Frankreichs wichtiger war als die Klärung theologischer Streitfragen. Der König strebte danach, die verfeindeten Konfessionsparteien der Katholiken und Hugenotten miteinander auszusöhnen und auf friedliche Koexistenz zu verpflichten. Als Leser ist man versucht, in der Akzentuierung des Motivs der nationalen Einheit einen Widerhall der zeitgeschichtlichen Umstände zu sehen. Als Saint-René Taillandier ihre Biographie schrieb, befand sich Frankreich in einer schweren Krise. Es waren die Jahre der Volksfrontpolitik, der scharfen Polarisierung zwischen Links und Rechts. Das Überleben der Dritten Republik stand in Frage. Ein Versöhner vom Format Heinrichs IV. war nirgends in Sicht.
Wie sind die drei Biographien im Vergleich miteinander zu bewerten? Alle drei Werke hätten davon profitiert, wenn die Verfasser mehr Informationen zum historischen Hintergrund eingestreut hätten. Wie funktionierte das Steuersystem der französischen Monarchie? Welche Aufgaben hatten die Parlamente? Vorwissen dieser Art, das für das Verständnis der Herrschaft Heinrichs IV. hilfreich ist, besitzen die allerwenigsten Leser, heute genauso wie zu früheren Zeiten. Obwohl die Biographie von Madeleine Saint-René Taillandier am ältesten ist, verdient sie es am ehesten, heute noch gelesen zu werden. Das Buch bestrickt den Leser mit einer historischen Erzählkunst, die es heute kaum noch gibt. Castelot käut nur wieder, was viele andere Autoren vor ihm über Heinrich IV. geschrieben haben. Die Biographie von Andrieux ist solide gearbeitet, besitzt aber keine Vorzüge, die ihre Lektüre heute noch rechtfertigen.