Erneut ein grandioser, eindringlicher Roman der schwedischen Autorin Ann-Helén Laestadius. Obwohl ich mich viel mit Residential Schools beschäftigt habe, an denen unter dem Vorwand von Bildung Kindern der First Nations in Kanada schlimmste physische und psychische Gewalt angetan wurde, war mir nicht bewusst, dass auch die indigene Bevölkerung in Europa in einem ähnlichen System ebenfalls großes Leid erfahren hat.
Der Roman beginnt in den 1950er Jahren. Eine Gruppe Kinder muss ihr Zuhause in den jeweiligen Sámi-Dörfern verlassen um auf sogenannte Nomadenschulen zu gehen. Sie müssen Schwedisch sprechen, werden bestraft, wenn sie ihre eigene Sprache verwenden, ihre Bräuche & Religion ausüben. Die Hausmutter, die Vorsteherin des Internats, quält die Kinder auf undenkbare Weise.
Ann-Helén Laestadius reiht die Perspektiven einer Handvoll Personen aneinander, die durch die Jahre begleitet werden: als Kinder und als Erwachsene. Da die meisten aus der gleichen Gegend kommen, kreuzen sich ihre Wege auch nach der Nomadenschule noch häufig.
Laestadius zeigt nicht nur schonungslos, was die Gewalt mit den Kindern macht, die dem Ganzen hilflos ausgesetzt sind; sie zeigt, wie Risse durch Familien gehen, weil die Kinder nicht über das, was ihnen angetan wird, sprechen können; sie zeigt, wie Traumen generationenübergreifend sind; sie zeigt, wie die unterschiedlichen Charaktere damit umgehen.
Durch den ständigen Wechsel der einzelnen Perspektiven, aber auch der Zeitsprünge, gibt es Lücken in den Biografien, manches wird angedeutet, anderes wird komplett offengelassen. Doch gleichzeitig fühlte ich mich so verbunden mit den Figuren, dass ich beim Lesen viel, viel über ihr Leben nachdachte. Die Figuren sind zwar fiktional, doch ihr Erlebtes, ihre Gefühle stehen stellvertretend für unzählige Sámi, denen selbst Ähnliches angetan wurde.
Mein einziger Kritikpunkt ist der deutsche Titel, der viel zu romantisierend klingt (und evtl. eine falsche Zielgruppe ansprechen könnte). Das schwedische Original „Straff“ hätte man sicher authentischer umsetzen können.
Maike Barth
Lebenslauf
Quelle: Verlag / vlb
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Rezension zu "Die Zeit im Sommerlicht" von Ann-Helén Laestadius
Das Buch erzählt die Geschichte mehrere Samenkinder in den 1950er Jahren., die von ihren Eltern getrennt wurden und auf Nomadenschulen geschickt wurden, wo Ihnen die „schwedische Kultur“ beigebracht wurde. Das bedeutete, dass ihnen die samische Sprache und das Ausüben ihrer Kultur zum Beispiel durch Joiken verboten wurde. Ein Verstoß gegen diese Regeln oder anderes ungehorsames Verhalten wurde mit Prügeln bestraft.
Der Roman spielt auf zwei Zeitschienen: Zum einen wird die Kindheit mehrerer Samenkinder in den 50er Jahren in einem dieser Heime beschrieben und zum anderen lernt man diese als Erwachsene kennen und sieht wie unterschiedlich die verschiedenen Personen auf das erlittene Martyrium reagiert haben und wie sie es verkraftet haben.
Das Buch ist sehr bewegend und es rührte mich zu Tränen von der Grausamkeit in der Nomadenschule zu lesen. Allerdings empfand ich die Sequenzen, in denen von den Erwachsenen erzählt wurde, sehr langatmig. Die Autorin arbeitet hier mit Bildern, die die Lebensweise der einzelnen Personen zeigen sollten und so hat man eine Aneinanderreihung von Szenen, die erstmal keinerlei Verbindung haben und die oft auch sehr mühsam zu lesen waren.
Jon-Ante, Else-Maj, Anne-Risten, Marge und viele andere samische Kinder mussten schon mit sieben Jahren ihr Elternhaus verlassen. Sie wurden ins Internat der Nomadenschule gezwungen, wo sie nicht mehr samisch reden durften und schwedische Namen verpasst bekamen. Und wo Hausmutter ein überstrenges Regiment geführt hat. Schläge gehörten zur Tagesordnung genauso wie seelische Gewalt. Einziger Lichtblick für die Kinder war bei Betreuerin Anna, die tröstende Worte und Umarmungen in aller Heimlichkeit für sie hatte.
Ann-Helén Laestadius hat eine traurige Beziehung zu diesem Roman, denn auch ihre Mutter musste diese Schule besuchen. Nach ihren Erlebnissen ist dieser Roman entstanden.
Die Autorin erzählt diese Geschichte aus der Sicht der verschiedenen Kinder und lässt uns gleichzeitig teilhaben, an ihrem Erwachsenenleben. Wir lesen parallel von ihren Traumata in der Schule und wie diese ihren Alltag später beeinflussten. Wir lesen vom Versuch, das Erlebte zu Verdrängen, im Alkohol zu ertränken oder mit Schmerztabletten zu betäuben. Nur reden wollen sie alle nicht darüber, dann das würde die Dinge zu sehr aufrühren.
Manche der Kinder tragen ein lebenslanges Zeichen mit sich. Die Narben am Körper verschwinden nicht und erinnern für immer an die Gewalt. Dennoch schaffen es die meisten ein gutes Leben zu führen, ihren Kindern gute Eltern zu sein und zu lieben, auch wenn manche von ihnen länger dafür brauchen.
Beim Begräbnis von Anna kommen sie alle wieder zusammen und erste Mauern beginnen zu bröckeln. Die erwachsenen Schüler und Schülerinnen der Nomadenschule beginnen in Worte zu fassen, was ihre Leben so lange beschwert hat. Somit ist das Buch auch eine Ode an die Resilienz!
Ich fand dieses Buch hervorragend erzählt. Die wechselnden Perspektiven halten die Geschichte abwechslungsreich und spannend und es hat mich beeindruckt, wie viel manche Menschen tragen können. Über das traurige Schicksal der samischen Bevölkerung habe ich schon öfter gelesen und immer wieder macht es mich traurig, wie viel dieses beeindruckende Volk zu erleiden hatte. Leider begegnen sie wohl noch immer Rassismus und Ablehnung, dabei sollten wir von den Traditionen dieses naturverbundenen Volkes lernen.
Von mir gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung für dieses Buch, dass auch irgendwie die Geschichte der Mutter der Autorin erzählt und die bestimmt viel Mut brauchte, um ihre Tochter in ihre Erlebnisse einzuweihen!
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