Urd wächst mit ihren Eltern und sieben Geschwistern in einem Haus mitten im Wald auf. Das könnte idyllisch sein, ist es aber nicht, denn die Eltern vernachlässigen ihre Kinder auf eine allumfassende Art und Weise. Der Vater ist Waldarbeiter und oft über Monate hinweg unterwegs, und wenn er da ist, lebt er in einem Wohnwagen vor dem Haus. Die Mutter ist apathisch und abweisend, meistens raucht, schläft oder badet sie. Ihr Verhalten lässt eine eigene Traumatisierung vermuten, möglicherweise ist sie auch depressiv, auf jeden Fall ganz offensichtlich nicht in der Lage, sich um ihre Kinder zu kümmern. Es gibt selten etwas zu essen im Haus, die Kinder sind sich selbst überlassen und verbringen viel Zeit in der Natur. Besonders Urd fühlt sich den Tieren besonders verbunden, aus ihrer Perspektive entdecken wir den Wald und die Lebewesen in ihm. „Adlerfarn über meinem Kopf, ein Dach aus Grün. Hexenkraut, eine Urzeitlandschaft. Ich denke: Was ist das für eine Wirklichkeit. Kann es mich hier geben.“ Der Wald hat etwas Märchenhaftes an sich, das aber auch immer einen dunklen Unterton beinhaltet. „Das hier ist kein Ort für Menschen. Hierher kommen die Kleinsten, um zu sterben oder um zu wachsen: Vögel, Salamander, Fliegen und Falter. Hier ist Frieden.“
Menschen dagegen stören das Gleichgewicht, sie töten oder werden gebissen. Urd beobachtet ihre Umgebung ungefiltert, für sie hat alles den gleichen Stellenwert: das Sterben eines Elchs und der Auszug ihrer älteren Geschwister, die nach und nach den Zuständen zu Hause entfliehen. Urd hat nie gelernt, als soziales Wesen zu agieren, wirklich zu kommunizieren, sie konnte nie einen moralischen Kompass entwickeln, um die Ereignisse in ihrem Leben für sich einzuordnen. Dadurch bekommt ihre Erzählung etwas Archaisches, eine Unmittelbarkeit, die wirklich berührend ist und auch zutiefst traurig. Der Titel des Romans bedeutet im Norwegischen so viel wie Schablone, Gestalt, Form, aber auch Missgestalt oder Missgeburt. Und dieses Wort umfasst den Inhalt perfekt, denn wenn die Form fehlt, wenn die eigene Gestalt keine Chance hat, sich in einem liebenden Umfeld zu entwickeln, wird die Interaktion mit anderen schwierig und deren Wahrnehmung vom eigenen Ich negativ behaftet.
Rønning hat einen wunderschönen und poetischen Roman geschrieben, der uns als Leser*innen das Gefühl gibt, mit Urd im Wald zu sein, die Geräusche der Tiere zu hören und die Textur der Pflanzen zu spüren, und der hervorragend von Andreas Donat übersetzt wurde.