Liebe Frau Barbetta, aus welchem Grund haben Sie sich dafür entschieden, in einer Fremdsprache zu schreiben und nicht in Ihrer Muttersprache?
Danke für Ihre Frage und Ihr Interesse! Ich schreibe auf Deutsch, weil ich die Sprache liebe. Ich habe sie in Buenos Aires studiert, das heißt, mich bereits vor langer Zeit für diese Fremdsprache entschieden und a-l-l-e-s dafür getan, sie zu erlernen. Sie ist und bleibt meine absolute Leidenschaft. Ich mag die deutschen Wörter, ihren wunderschönen Klang, aber auch die Grammatik, vor allem mag ich das Gefühl, dass im Umgang mit der Fremdsprache nichts eine Selbstverständlichkeit ist. Ich mag das Nachdenken über die Sprache und besonders die Doppeldeutigkeit mancher Begriffe, weil das ein Zeichen von Offenheit ist. Deutsche Wörter haben eine Plastizität und Sinnlichkeit, die Wörter auf Spanisch sicherlich auch haben, die ich aber nicht wahrnehme, da ich Spanisch gebrauche, ohne mir ihrer Gesetzmäßigkeit bewusst zu sein. Die Distanz, die mich von der deutschen Sprache trennt, finde ich äußerst produktiv. Sie führt dazu, dass sie mich immer wieder überrascht, und das Resultat ist eine unbändige Freude, so wie die bei frisch Verliebten. Wenn es darum geht, literarisch zu schreiben, ist Deutsch für mich anders als das argentinische Spanisch vollständig unbesetzt, und weil Deutsch für mich unbesetzt ist, kommt es mir leicht vor, obwohl es paradoxerweise voller Tücken ist.
In „Nachtleuchten“ steckt Ihr Herzblut und ein Teil von Ihnen – was erhoffen Sie sich von Ihrem Werk, was hoffen Sie in den Lesern zu bewegen, bzw. was wünschen Sie sich, was wir Leser aus Ihrem Werk mitnehmen?
Sie haben vollkommen recht. Kunst ist eine Tochter der Freiheit, hat Friedrich Schiller einmal geschrieben, und als ich das zum ersten Mal las, ging mein Herz auf. Beim Schreiben, aber auch im Leben sind mir zwei Dinge wichtig: Ich will Schönheit aufspüren und das Gefühl der Freiheit einatmen. Erkämpfen möchte ich mir weder das eine noch das andere. Meine Leser und Leserinnen sollen wissen, dass ich lesend und schreibend glücklich zu werden versuche. Literatur, davon bin ich überzeugt, kann uns immer den Weg aufzeigen.
Wie wichtig war es Ihnen, in dem Roman Ihre eigene politische Meinung zu schreiben – oder war es im Gegenteil Ihr Anliegen, neutral zu bleiben?
Literatur, so wie ich sie verstehe, steht für Freiheit, FREIHEIT groß geschrieben. Sie ist kein politisches Pamphlet, sondern ein Spiel mit ungeahnten Möglichkeiten, eine Entdeckungsreise, auf die ich mich selber einlasse. „Nachtleuchten“ will kein Politthriller sein, denn ich wollte mich nicht in die Köpfe der Mörder und Verbrecher jener Zeit hineinbegeben. Ich wollte also nicht die politischen blutigen Kämpfe in den Vordergrund stellen, sondern vielmehr den Alltag der kleinen Leute. Die kleinen Leute sind meine großen Helden: eine progressive Nonne, eine Klosterschülerin, ein schwuler Friseur, eine Gruppe Automechaniker ... Ich liefere keine Antworten, sondern erzähle die Lebensgeschichten von einfachen Menschen, die versuchen, in finsteren Zeiten den Mut nicht zu verlieren und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft allen Widrigkeiten zum Trotz aufrechtzuerhalten. Diese Figuren achten das Leben, vielleicht umso mehr, weil der Tod in jener Zeit so präsent ist.
Ihr Buch zeichnet sich unter anderem besonders durch die detaillierten Beschreibungen aus. Haben Sie Vorbilder oder Bücher, die Sie selbst zum Schreiben inspiriert haben? Wenn ja, welche? Was fördert bei Ihnen die Entstehung von Ideen und die Entstehung von Bildern für einen Roman?
Mein großes Vorbild ist Julio Cortázar, ein argentinischer Autor, der seine Heimat verließ und in Frankreich lebte, jemand, der überall Schönheit aufspürte, auch an den Orten, an denen es objektiv gesehen keine Schönheit gab, ein einfühlsamer, großzügiger Autor, der trotz seiner absoluten Könnerschaft bescheiden war und seine Leser achtete. Von ihm habe ich gelernt, in den Lesern und Leserinnen die wahren Komplizen eines jeden Autors zu sehen, freie Geister, ohne die es kein Buch gibt, denn sie sind es, die es zum Leben erwecken. „Nachtleuchten“ liegt mir wahrlich am Herzen, deshalb danke ich Ihnen für das schöne Lob. Ich habe sehr lange daran gearbeitet. Gewidmet ist es meinen Großeltern mütterlicherseits, die Pate standen für die Figur von Berta Sanfratello und Julio El Haddad. Von Cortázar abgesehen, sind solche Menschen Vorbilder für das zweite Buch, Menschen, die es tatsächlich gegeben hat, die heute aber leider nicht mehr da sind. Einige Figuren in „Nachtleuchten“ hatten also eine Entsprechung in der Wirklichkeit, aber angereichert habe ich sie natürlich mit einer guten Portion Einbildungskraft. Den Friseur Celio Rachello hat es auch gegeben. Er hieß aber Mario und hat mir, als ich 15 war, eine schreckliche Dauerwelle verpasst (ich wollte damals unbedingt Locken und sah dann aus wie ein Pudel). Das Armutsviertel in José León Suárez gibt es auch. In der Wirklichkeit ist es meine Mutter und nicht Schwester María, die einmal in der Woche dahin fährt, um Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen. Pater Amaro hieß Luis Agazzi. Er war, seitdem ich denken kann, steinalt. Er nuschelte, und ich konnte bei der Messe kein Wort verstehen, außer wenn er „Die da, die da“ sagte. Er meinte tatsächlich die Spiritisten. Don Nasif war der Nachbar meines Opas und sah genauso aus, wie ich ihn beschreibe. Er war eine Seele von Mensch. Abdala hieß aber in Wirklichkeit der Schwager meines Opas. Diese einfachen Menschen, die nicht einmal studieren konnten, sind meine Vorbilder. Sie wurden literarische Figuren, weil sie mein Leben bereichert haben. Ich wollte, dass sie, wenngleich in der Literatur, weiterleben und vielleicht anderen als Vorbild dienen. Übrigens, auch die Plastikmadonna gibt es. Sie gehörte meiner italienischen Oma, und ich nahm die Statuette mit nach Berlin, als sie starb.
Vom Standpunkt eines Unwissenden aus, der sich bisher wenig mit Argentinien und der Geschichte des Landes beschäftigt hat: Wo wäre Argentinien Ihrer Meinung nach ohne diese revolutionären Gedanken heute? War diese Revolution eine Frage oder ein Ergebnis dieser Zeit? Welchen Weg hätte man einschlagen sollen und wäre diese Revolution zur heutigen Zeit eine andere?
Das Wort „Revolution“ haben in jener Zeit alle in den Mund genommen, sowohl Linke als auch Rechte. Um nur ein Beispiel zu geben: Die Militärjunta, die nach der Bombardierung der Plaza de Mayo den Präsidenten Perón 1955 wegputschte, nannte sich selbst „Revolución Libertadora“, die „Befreiende Revolution“. Unter ihrer Flagge geschah auch das Massaker von José León Suárez, das ich in „Nachtleuchten“ beschreibe. Revolutionen, auch linke, sind in jenen Jahren immer mit Waffengewalt verbunden. Sogar die Drittweltpriesterbewegung bleibt von diesem Zeitgeist nicht verschont. Mein Buch richtet das Augenmerk deswegen mehr auf die unspektakulären Kämpfe, auf einen Alltag, in dem es um Nächstenliebe geht, um Zusammenhalt, um Werte wie Ehrlichkeit, Großzügigkeit und Freundschaft. Ihre Verfechter stärken sich gegenseitig, sie verlieben sich, denn das Leben, das sie achten, geht weiter, sie treffen sich, tauschen sich über Politik aus, haben Träume und große Ideale, sie trauern, spielen Lotto, singen unter der Dusche oder kämpfen gegen das Gefühl von Melancholie an ... Es geht ihnen in erster Linie darum, das Leben in seinen unterschiedlichen Aspekten zu würdigen und es immerzu für lebenswert zu erachten. Sie geben nicht auf. Das ist in meinen Augen die wahre Revolution.
Was bedeutet für Sie in unserer heutigen modernen und aufgeklärten Welt Glaube? Haben Sie ähnlich wie Teresa eine katholische Mädchenschule oder ähnliche Einrichtungen besucht? Wie hat das gegebenenfalls Ihr Leben aus heutiger Sicht beeinflusst?
Genauso wie meine literarische Figur Teresa Gianelli hat meine Mutter, nicht ich, eine katholische Mädchenschule besucht, das Instituto Santa Ana, in dem aber kein Französisch unterrichtet wurde, sondern ganz einfach Spanisch. Als kleines Mädchen und Heranwachsende bin ich sonntags immer in die Kirche gegangen und habe eine ganze Weile mit dem Gedanken gespielt, Nonne zu werden. Ich war ein braves Mädchen, wollte immer allen helfen, den alten Menschen, den Kindern, die Welt retten, so wie viele von uns in jungen Jahren. Gerechtigkeit erschien mir ein hohes Gut, und so ist es heute immer noch. Keine Ahnung, ob es naiv ist, wahrscheinlich schon, aber egal: Ich will mir das Gefühl nicht nehmen lassen, nicht die Hoffnung trotz aller Widrigkeiten und schlimmen Ungerechtigkeiten auf diesem Planeten, dass am Ende, ganz, ganz, ganz am Ende immer das Gute siegt. Dafür muss jeder aber seine kleine (große) Aufgabe meistern, wie es im „Nachtleuchten“ heißt. Ich glaube fest an die Literatur, daran, dass sie uns hilft, uns in fremde Schicksale einzufühlen und dadurch empathisch, ja, menschlicher zu werden.
Sie waren bei Denis Scheck im Gespräch und in Zeitungen wird teils kritisch über Sie bzw. Ihr Buch berichtet. Wie gehen Sie mit diesen unterschiedlichen Reaktionen auf Ihr zweites Buch um? Hatte das Feedback zu Ihrem ersten Buch einen Einfluss auf „Nachtleuchten“?
Gute Kritiken machen mich natürlich glücklich, aber leider vergesse ich sie schnell. Die weniger wohlwollenden stimmen mich traurig, und ich vergesse sie leider nicht, was mein Schreiben enorm erschwert. Manchmal sind Kritiken sehr verletzend formuliert, denn nicht alle Menschen vermögen die Wirkung ihrer Worte zu ersehen oder zu ermessen. Unlängst hat eine Zeitung einigen Autoren und Autorinnen die Frage gestellt: „Was wollten Sie Ihren Kritikern schon immer mal sagen?“ Anstelle einer Abrechnung habe ich mich dafür entschieden, einen kleinen literarischen Text darüber zu schreiben, den ich jetzt mit Ihnen teile. Meine Antwort lautete: „Die Mandragora gehört vielmehr zur Fauna als zur Flora, denn das Giftkraut der Kirke schreit, wenn man es ausreißt. Das Handbuch der phantastischen Zoologie, das Jorge Luis Borges unter Mitarbeit von Margarita Guerrero herausgab, bevölkern imaginäre Wesen. Sie heißen Sirene, Einhorn oder Sphinx. In meinen Augen ist jeder eigenwillige Roman ein solches Geschöpf, ein Mischwesen, eine Kreuzung aus Erlebtem und Erdachtem, aus Versatzstücken, realen Orten und Traumbildern, die sich phantasmagorisch überlagern. Gängige Kategorien und Demarkationslinien greifen nicht mehr. Atmen Sie tief ein und aus. Beruhigen Sie sich. Sie brauchen keine Angst zu haben. Nutzen Sie vielmehr die Chance, die sich Ihnen bietet, das Tier von allen erdenklichen Blickwinkeln zu betrachten. Gehen Sie ein paar Schritte. Borges schrieb einmal, der Mensch, der sich fortbewege, verändere die Formen seiner Umgebung. Sie werden Zeit benötigen, das Tier kennenzulernen. Versuchen Sie es nicht zu zähmen, mit Ihren vorgefertigten Meinungen und gesetzten Erwartungen einzuzwängen. Das Tier hat sich lange, bevor Sie es erblickten, seine Freiheit erkämpft.“