Marc Ferro

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Cover des Buches Nikolaus II., der letzte Zar. Eine Biographie (ISBN: 9783545340879)
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Rezension zu "Nikolaus II., der letzte Zar. Eine Biographie" von Marc Ferro

Andreas_Oberender
Drei Bücher über Zar Nikolaus II. Teil 1: Marc Ferro

Michail Gorbatschows Politik der „Offenheit“ und „Transparenz“ (Glasnost) führte in der Sowjetunion und im Westen zu einer verstärkten Beschäftigung mit der vorrevolutionären Geschichte Russlands und insbesondere der Herrschaft Nikolaus’ II., des letzten Zaren aus dem Hause Romanow. Zu Sowjetzeiten war Nikolaus II. (1868-1918) eine Unperson. Aus Sicht der marxistischen Geschichtswissenschaft verkörperte er eine zum Untergang verurteilte Gesellschaftsordnung. Eine sachliche, ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner Person und seiner Herrschaft schien überflüssig. Westliche Historiker, etwa Robert Massie (Nicholas and Alexandra, 1967), interessierten sich mehr für das Eheleben des Herrschers und das tragische Ende der Zarenfamilie, weniger für die politische Geschichte Russlands an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Massie und anderen Autoren standen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen nur edierte Briefe, Memoiren und Tagebücher zur Verfügung, die von Mitgliedern des Kaiserhauses, Angehörigen des Hofstaates und einzelnen Ministern stammten, ein schmales und einseitiges Quellenkorpus. Mit der schrittweisen Öffnung der russischen Archive ab Ende der 1980er Jahre boten sich Möglichkeiten, die Quellenbasis für eine Biographie Nikolaus’ II. deutlich zu verbreitern. In den 1990er Jahren erschienen in Russland und im Westen mehrere Biographien des Zaren, die in unterschiedlichem Umfang auch unveröffentlichtes Archivmaterial verarbeiteten. Einige dieser Biographien waren Schnellschüsse, überhastet niedergeschrieben und auf den Markt geworfen. Sie sind längst in Vergessenheit geraten. Das gilt für die Bücher von Henri Troyat (1991, deutsche Ausgabe 1992), Edward Radsinski (russische Ausgabe 1993, deutsche Ausgabe schon 1992) und Elisabeth Heresch (1992). Von anderem Kaliber sind die Werke dreier Fachhistoriker: Marc Ferro (1990, deutsche Ausgabe 1991), Dominic Lieven (1993) und Hélène Carrère d’Encausse (1996, deutsche Ausgabe 1998). Diese drei Bücher werden hier vorgestellt und vergleichend rezensiert. Wer sich mit Nikolaus II. beschäftigen möchte, kommt an ihnen nicht vorbei. Die Benutzung dieser Werke ist ungeachtet ihres Alters alternativlos. Denn schon vor der Jahrtausendwende erlosch das Interesse am letzten Zaren wieder. Seit 25 Jahren hat kein westlicher Historiker eine neue Biographie Nikolaus’ II. vorgelegt. Die reichhaltigen Bestände der russischen Archive, darunter die persönlichen Nachlässe vieler Mitglieder des Hauses Romanow, wurden bis heute nicht systematisch gesichtet und ausgewertet. Eine Biographie des letzten Zaren, die vollauf wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, bleibt ein Desiderat der Forschung. Leichtgewichtige populärwissenschaftliche Bücher (György Dalos, 2017) können hier außer Betracht bleiben.

Im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts zählte Marc Ferro (1924-2021) in Frankreich zu den führenden Experten für die Geschichte Russlands und der Sowjetunion. Seine Biographie Nikolaus’ II. erschien 1990 bei Payot und ein Jahr später bei Benziger auf Deutsch. Ferro war einer der ersten westlichen Historiker, die noch vor dem Zerfall der Sowjetunion den Gang in die Moskauer und Leningrader Archive antraten. Doch da sein Buch keinen Anmerkungsapparat (Fuß- oder Endnoten) enthält, ist nicht zu erkennen, an welchen Stellen das im Literaturverzeichnis aufgeführte Archivmaterial in den Text eingeflossen ist. Das Buch ist in vier Teile gegliedert, von denen nur die beiden ersten zufriedenstellend sind. Der erste Teil reicht bis zur Revolution von 1905, der zweite behandelt das Jahrzehnt vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die Darstellung ist lebendig und dank zahlreicher Zitate sehr quellennah. Die westliche Geschichtswissenschaft hatte noch nie eine gute Meinung von Nikolaus’ Leistungen als Herrscher. Auch Ferro zeichnet ein durchweg negatives Bild von Nikolaus’ Regierungstätigkeit. Seine Haltung gegenüber dem Monarchen ist frei von Gefühlsduselei und Mitleid. Ferro zeigt Nikolaus als Produkt einer problemträchtigen Erziehung und Sozialisation. Als Thronfolger und auch als Zar führte Nikolaus in den kaiserlichen Residenzschlössern ein isoliertes und abgeschottetes Leben. Seine sozialen Kontakte beschränkten sich auf Familie und Verwandtschaft, Höflinge und Minister, Generäle und Offiziere. Der Herrscher hatte kein Interesse daran, mit Unternehmern und Wissenschaftlern, Intellektuellen und Künstlern in Berührung zu kommen. Von den stürmischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen, die Russland um die Jahrhundertwende erlebte, besaß Nikolaus nur ein vages Bild. Sein Vater, Zar Alexander III., und seine Lehrer hatten ihm eingeschärft, seine Hauptaufgabe als Kaiser bestehe darin, das überkommene autokratische Herrschaftssystem unverändert an seinen Nachfolger weiterzugeben. Nikolaus entwickelte eine hochgradig traditionsverhaftete und rückwärtsgewandte Geisteshaltung. Reformwünsche des gebildeten, nach politischer Mitsprache strebenden Bürgertums stießen bei ihm auf schroffe Ablehnung. Im Umgang mit der russischen Gesellschaft legte der Zar eine verbissene, autistisch anmutende Dialogverweigerung an den Tag. Reflexhaft griff er zu repressiven Mitteln, wenn es zu Krisen, Unruhen und Revolten kam. Nur unter hohem äußerem Druck, so während der Revolution von 1905, war Nikolaus zu Zugeständnissen bereit. Er gewährte die Einrichtung eines Parlaments, setzte aber im Verein mit seinen reaktionären Ministern und Ratgebern alles daran, die Arbeit der Duma nach Kräften zu sabotieren. In der Außenpolitik agierte Nikolaus glücklos. Seine Expansionspolitik in Ostasien mündete in die demütigende Niederlage im Krieg mit Japan. 

Der dritte Teil behandelt den Ersten Weltkrieg, die Revolution vom Februar 1917 und die Abdankung des Zaren. Er erreicht nicht das Niveau der beiden ersten Teile. Das Kriegsgeschehen ist Ferro nur wenige Zeilen wert, obgleich der Zar im Sommer 1915 persönlich den Oberbefehl über die russischen Streitkräfte übernahm. Völlig missglückt ist der vierte und letzte Teil. Angesichts einer schwierigen Quellenlage ließ sich lange Zeit nicht mit letzter Gewissheit sagen, was der Zarenfamilie im Sommer 1918 in Jekaterinburg widerfahren war. Während der Arbeit an seinem Buch lernte Ferro den berüchtigten Betrüger und Hochstapler Alexis Brimeyer (1946-1995) kennen. Der im Kongo geborene Belgier Brimeyer gab sich im Lauf seines Lebens als Mitglied verschiedener europäischer Adelsfamilien und Herrscherhäuser aus. In den 1980er Jahren behauptete er, Urenkel des letzten Zaren zu sein. Er gab an, die dritte Zarentochter Maria sei seine Großmutter gewesen. Ferro fiel auf Brimeyers Fabeleien herein und stellte in seinem Buch die These auf, nur der Zar sei im Juli 1918 erschossen worden. Die Sowjetführung habe der Zarin Alexandra und ihren Töchtern die heimliche Ausreise in den Westen gestattet, als Geste des guten Willens gegenüber der deutschen Regierung. Die Frauen seien im Westen untergetaucht und hätten dort jahrzehntelang unerkannt gelebt. Der Verbleib des Thronfolgers Alexej sei hingegen unklar. Diese abstruse Theorie trug Ferro seinerzeit viel Häme und Spott ein. Auch heute noch ist es nicht nachvollziehbar, wie der gestandene Historiker Ferro dem europaweit als Gauner bekannten Brimeyer auf den Leim gehen konnte. Obwohl das Schicksal der Zarenfamilie in den 1990er Jahren endlich abschließend geklärt wurde – die gesamte Familie kam in Jekaterinburg ums Leben –, hielt Ferro unverdrossen, ja starrsinnig an seiner These fest, die Zarin und die Großfürstinnen hätten überlebt. Mit fast 90 Jahren veröffentlichte er ein weiteres Buch zu diesem Thema (La vérité sur la tragédie des Romanov, 2012), das bei der Fachwelt erwartungsgemäß nur Kopfschütteln auslöste. Ferro fügte seiner Reputation als Wissenschaftler mit seinen Spekulationen über das Schicksal der Zarenfamilie erheblichen Schaden zu. Wer Ferros Nikolaus-Biographie heute lesen möchte, kann auf die Lektüre des verworrenen vierten Teils getrost verzichten. Zu beanstanden ist zu guter Letzt, dass Ferro auf ein bilanzierendes Schlusskapitel verzichtet hat. 

FAZIT

Die Biographie von Marc Ferro ist das schwächste der drei Bücher. Sie verdient keine Leseempfehlung. Es liegt nahe, die Biographien von Dominic Lieven und Hélène Carrère d’Encausse zusammen zu lesen. Beide Werke ergänzen einander sehr gut. Doch wie bereits einleitend dargelegt, genügen sie aufgrund ihres Alters nicht den Ansprüchen und Erwartungen, die heute an eine Biographie Nikolaus’ II. zu stellen sind. Was Biographien europäischer Monarchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts betrifft, so hat die historische Forschung in den letzten Jahrzehnten Aspekte und Themen in den Blick genommen, die früher unbeachtet blieben, so auch bei Ferro, Lieven und Carrère d’Encausse. Bezogen auf Nikolaus II. seien drei Themen genannt, die eine systematische Untersuchung verdienen: (1) Die persönlichen Kontakte des Zaren zu anderen Monarchen seiner Zeit (z.B. Kaiser Wilhelm II., Eduard VII. und Georg V. von Großbritannien) und ihre politischen Implikationen. (2) Das höfische Milieu, in dem der Zar den Großteil seines Alltagslebens zubrachte. (3) Die Verhältnisse innerhalb des Hauses Romanow. Nikolaus war als Zar Oberhaupt eines vielgliedrigen Familienverbandes, der in den hier vorgestellten Büchern nur sehr schemenhaft in Erscheinung tritt. Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft eine neue Biographie Nikolaus’ II. entsteht, die solche Aspekte einbezieht und überdies die in den russischen Archiven schlummernden Quellenschätze erschließt.

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