Rezension zu "Die Kolonie" von Jinkang Wang
Obwohl dieses Buch unter Sci-Fi gelistet wird, ist der Anteil davon eher gering. Stattdessen würde ich es als fiktiven historischen Roman bezeichnen.
Die ersten 100 Seiten konnte mich der Autor mit seiner Geschichte begeistern. Eindringliche Schilderung der Unruhen während der Kulturrevolution. Kritischer Kommentar über den Missbrauch junger Frauen. Interessante Charaktere - unter anderem Protagonistin Qiuyun, die zwischen Freunden, Familie und Systemterror ihren eigenen Weg finden muss. Ich hatte sie anfangs als ambitionierte, gerechtigkeitsliebende und selbstbestimmte Frau empfunden, die sich zwar auf Beziehungen einlässt, aber darüberhinaus nie ihre eigenen Werte und Ziele verraten würde.
Aber dann wurde es ganz anders. 😞
Qiuyuns Charakterentwicklung war zu schwach. Anstatt Eigeninitiative zu entwickeln, blieb sie fast das ganze Buch über die Mitläuferin und devote Assistentin. Sie konnte zwar hinter das Machtgefüge schauen, doch zog dann vollkommen unlogische und absurde Schlussfolgerungen. Mit „ehrfürchtiger Verliebtheit“ blickte sie zu ihrem gottgleichen Mann auf und ließ sich von ihm erklären, was sie zu denken und zu tun hat. Als sie sich endlich einmal durchsetzt und ihn von seinem Thron stößt, ist es schon längst zu spät.
Zweitens hatte die Handlung nach dem Mittelpunkt einen großen Hänger. Ich fühlte mich von den Beschreibungen der Farmarbeit gelangweilt und wartete sehnsüchtig darauf, dass endlich mal etwas oder jemand diese illusorische Idylle auflöst. Anfang und Ende mochte ich, den Mittelteil fand ich verbesserungswürdig.
Drittens: Ich mochte auch an vielen Stellen nicht, wie sexueller Missbrauch von Jugendlichen thematisiert wurde. Da erwarte ich differenziertere Betrachtungen.
Viertens, die Funktionsweise des Serums. Einmal Sprayen reichte aus, um die Jugendlichen komplett zu verändern. Über Monate hinweg. Selbst, wenn es wie eine Art Droge über die Atemwege aufgenommen wurde, hätte es nicht schnell wieder abgebaut werden müssen? Wieso hielt die Wirkung so lange an? Hier hat mir der wissenschaftliche Hintergrund gefehlt.
Weder Yan Zhe, noch Qiuyun haben sich viel um die Ethik ihrer Experimente gesorgt. Es galt „Alles für die Wissenschaft“, auch wenn das hieß, unzählige Insekten zu töten und Menschen sowie Babys unter Drogen zu setzen. Das hat sie beide für mich zu Antagonist*innen gemacht. Yan Zhe mehr als die Prota, aber auch sie trägt eine Mitschuld. So eine Perspektive muss man mögen oder zumindest aushalten und das hat mich doch vor Herausforderungen gestellt.
Am meisten betrübt mich, dass mir dieses Buch hätte sehr gefallen können. Die Geschichte enthält eigentlich viele interessante Themen. Sie setzt sich mit der Frage auseinander, ob man Menschen zu ihrem Glück zwingen kann oder ob der Zwang an sich das schon unmöglich macht. Oder was überhaupt Glück, Selbstlosigkeit und Altruismus bedeutet. Auch moderne Aspekte wie Selbstorganisation, Bewertungssysteme und Lohngleichheit werden besprochen.
Tja, ein typischer Fall von vielversprechende Idee, unbefriedigende Umsetzung vor.