Cover des Buches Mein Leben (ISBN: 9783570551868)
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Rezension zu Mein Leben von Marcel Reich-Ranicki

Die ungeheuerliche Leidenschaft Ranickis oder Als Aussenseiter mittendrin im Literaturbetrieb

von wandablue vor 10 Jahren

Kurzmeinung: Ich kann Moni 3007 nur beipflichten: allerdings sollte man ziemlich belesen sein, sonst verdurstet man auf weite Strecken.

Rezension

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wandabluevor 10 Jahren
Zu „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki, dem im Zwanzigsten Jahrhundert wohl bekanntesten Literaturkritiker Deutschlands, dessen Wirken und Einfluß sich sowohl in den Osten wie auch in den Westen und Norden erstreckte, werde ich einmal eine ausführlichere Besprechung geben:

Schriftsteller sind eitel und egozentrisch, befinden sich ständig in einer Krise, haben gerade eine Krise überwunden oder befürchten eine heraufziehen, sagt Marcel Reich-Ranicki sinngemäß, und wenn nicht, seien es keine Schriftsteller oder schlechte. Mit seiner Autobiografie „Mein Leben“ ist Marcel Reich-Ranicki einmal mehr selber zum Schriftsteller geworden, er, dessen Passion für die Literatur seit der Jugend ihn zum Kritiker prädestiniert hat und er diese, seine Berufung auslebte, sobald das Leben, d.h. die Deutschen, die Polen und wiederum die Deutschen dieses Berufsfeld zuließen oder die Umstände... Umstände, wie das Verschicktwerden von Wloclawek in Polen nach Berlin zum Erlangen gediegener humanistischer Bildung, die Emigration von Berlin nach Warschau, die Internierung ins jüdische Viertel, das von tausend Zufälligkeiten abhängige Überleben im Warschauer Ghetto, um nur einige zu nennen.

Dabei, sagt er, muss man zwischen der Liebe zum Buch und der Liebe zur Literatur unterscheiden. Verleger lieben Bücher, Kritiker Literatur. Und ohne Liebe zur Literatur gebe es keine Kritik. So habe ich ihn verstanden, so sagt er es von sich selber. Die Literatur war für Marcel Reich-Ranicki nicht nur ein Broterwerb, gemeinsam mit der Musik hat sie ihn buchstäblich gerettet und ihm die Verortung in einer geistigen Heimat erlaubt. Denn „zusammen mit der Dichtkunst heilt die Musik alle Seelenleiden aus dem Grunde“ prophezeite Goethe nicht nur ihm. Seine Putzfrau hat das nicht verstanden. Sie kündigte dem Ehepaar Tosia und Marcel Ranicki den Dienst auf, als Tosia aushäusig Geld verdiente und der Herr Gemahl untätig Romane lesend zu Hause saß. So sah sie es.

In der BRD, in der sich die Famile schliesslich niederließ und die deutsche Staatsangehörigkeit zugesprochen bekam, wurde Reich-Ranicki sowohl durch seine Beiträge im Feuilleton grosser deutscher Zeitungen bekannt, wo er sich vor allem um das Bewusstwerden der Existenz ostdeutscher Autoren verdient machte und zunehmend auch in Funk und Fern, wo er auch mir schliesslich, zwei Generationen nach ihm, mit dem Literarischen Quartett, einer Nachfolgesendung des Literarischen Kaffeehauses ins Bewusstsein rückte. Nicht, dass ich damals ein Wort von dem verstanden hätte, was er mit Nachdruck von sich gab. Mit der Literatur, falls man das Wort ohne zu erröten gebrauchen mag, die ich damals am liebsten las, hat sich Marcel natürlich niemals beschäftigt. Trotzdem gab es schon manche Berührungspunkte. Ich las die Klassiker, die mir wie ihm durch leidenschaftliche Lehrer vermittelt wurden auch in meiner Freizeit, ich wurde in meiner Lektüre erwachsener und moderner, schätzte die Lyrik Ingeborg Bachmanns vielleicht noch mehr als Reich-Ranicki und trauerte um sie, wie auch er wohl betroffen war von ihrem, bis heute nicht ganz aufgeklärten frühen Tod.

So wie heute etablieren sich Kritiker am ehesten mit Verissen, was ich bedauere, aber dem sensationslüsternen Naturell des Menschen entspricht und so war Ranicki etabliert als er für die ZEIT Bölls Romane und Grass Blechtrommel, immerhin ein Roman mit Weltruhm „einseitig“ besprach. Das Büchlein „Lauter Verrisse“ hing ihm allerdings länger nach als ihm lieb gewesen ist, selbst als er das Gegenbüchlein „Lauter Lobreden“ nachschob.

Wieso konnte er, der Drangsalierte, sich über die deutsche Staatsangehörigkeit freuen? Er war glücklich in einem Land zu leben, das ihm erlaubte, dieses jederzeit ohne Erlaubnis zu verlassen und wiederzukommen! Denn dies war ihm im damaligen kommunistischen Polen, verborgen hinter dem sogenannten Eisernen Vorhang, keineswegs möglich gewesen. Deutschland hat er einmal definiert zwischen den Polen von Adolf Hitler und Thomas Mann liegend. Mir, als Nachgeborene, die ich die Gnade der späten Geburt genieße und die ich nicht mehr zu denen gehöre von deren Traum nach einem „besseren Staat“ Brecht noch mit Sehnsucht sagen mußte „Das Ziel lag in großer Ferne, es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich nicht zu erreichen“ jagt die großmütige und doch schaurige Aussage Ranickis Schauer über den Rücken. Thomas Mann war das literarische Idol Ranickis. Dem kann ich mich nur bedingt anschliessen, was unter anderem daran liegt, dass ich einen Mann nicht respektieren kann, der als Vater komplett versagte und dessen Kinder reihenweise (wohl auch deshalb) Suizid begingen.

Die Zeiten, die Marcel Reich-Ranicki durchgemacht und durchlebt hat, haben ihn dazu gezwungen, zielstrebig zu sein. Auch war er ein unermüdlicher und disziplinierter Arbeiter, der zwischen Job und Freizeit nicht sonderlich unterschied, und so hat er sich allen Widrigkeiten zum Trotz, die es natürlich auch in seiner Laufbahn gab, durchgesetzt, hat sich einen Namen gemacht und hat wenige wahre Freundschaften geschlossen. Am innigsten war seine Freundschaft mit Walter Jens, auch einem grossartigen deutschen Denker, einem Theoretiker, dem Marcel manches Mal das Grün des Baums des Lebens empfahl, ohne dass Jens das Grau der Theorie zu verlassen imstande gewesen wäre, sagt Reich-Ranicki. „Es gab Zeitabschnitte, in denen die Gespräche mit Walter Jens die Höhepunkte meines Lebens waren“ schildert er die Enge dieses Bands. Dass diese für unverbrüchlich gehaltene Freundschaft nach über dreissig Jahren doch zerriß, schlug beiden Männern eine Lebenswunde. Warum die Freundschaft zerbrach, geht aus der Autobiografie selbst nicht hervor; doch lag es wohl an der öffentlichen Streitigkeit über die Gewichtigkeit von Ranickis Tätigkeit beim polnischen Geheimdienst in den frühen 50er Jahren, in deren Auftrag und Rahmen er zwei Jahre in London verbrachte, eine Tätigkeit, die Tilman Jens in anscheinend aggressiver Art und Weise in die Öffentlichkeit zerrte und von dessen Sicht Walter Jens sich nicht distanzieren wollte.

Trotz aller Erfolge hat sich Ranicki stets ein bisschen in einer Aussenseiterrolle befunden gefühlt, vielleicht darin gefallen? Die Gruppe 47, die er in seiner Eigenschaft als Kritiker begleitete, ließ ihn dies dezent spüren. Diese Gruppe war keine homogene Gruppe, sondern „lediglich“ ein von Hans Werner Richter ins Leben gerufenes Forum geladender Schriftsteller. Es gab ja noch kein Internet und keine digitalen Bücherforen so wie heute. Dort galten strenge, jedoch ungeschriebene Regeln, zum Beispiel die, dass nach einer Lesung eines Autors oder einer Autorin diese nicht mehr das Wort ergreifen durften und stumm der Kritik oder des Lobs der Tagungsteilnehmer harren mussten. Eine harsche Übung in Selbstbeherrschung und Demut, wie ich meine, dazu angetan, Eitelkeit und Egozentrik entgegen zu wirken.

Reich-Ranicki übernahm ab 1972 die Leitung des Literaturteils der Frankfurter Allgemeinen. Alle Ehrungen aufzuzählen, die ihm ausserdem widerfahren sind, würde zu weit führen.

Geht aus der Biografie hervor, was für ein Mensch Marcel Reich-Ranicki war? Nur begrenzt. Auffallend ist, dass er um beruflicher Vorteile willen, oft geschwiegen hat, als er hätte reden sollen, so zum Beispiel bei der Begegnung auf gesellschaftlichem Parkett mit Albert Speer und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch er ein äusserst ehrgeiziger, einflussbestrebter und zumindest auf seinem Fachgebiet rechthaberischer und selbstgefälliger Mann gewesen ist, und es der Ehrungen nicht genug sein konnten. Der Damenwelt war er ab und zu auch ein wenig zu herzlich zugetan. Dass er auch sensible Seiten hatte, läßt mancher Abschnitt ahnen.

Fazit: Marcel Reich-Ranickis Autobiografie „Mein Leben“ ist auch unter kritischstem Blick betrachtet als ausserordentlich gelungen zu bezeichnen, die Lektüre führt unterhaltsam, ein wenig selbstironisch und ansprechend durch die Landschaft deutscher Gegenwartsbildung. Richtig wohlfühlen in ihr wird sich jedoch nur der Leser, der kulturell interessiert und ziemlich belesen ist.


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