Marcello Liscias „Ein verregneter Sommer“ nimmt uns mit in die späten fünfziger Jahre, als der 16-jährige Luca aus Norditalien nach Deutschland kommt, um als Gastarbeiter in einer Eisdiele zu arbeiten. Unter der strengen Aufsicht von Signora Colombo lernt Luca die harten Bedingungen einer Sieben-Tage-Arbeitswoche kennen. Doch an den vielen Regentagen jenes Sommers erhält er frei und begegnet dem gleichaltrigen Gymnasiasten Hans, der unter den weiblichen Mitarbeitern der Eisdiele als der „bel biondo“ bekannt ist. Trotz Sprachbarrieren und mit Hilfe eines italienisch-deutschen Wörterbuchs nähern sich die beiden jungen Männer einander an. Gemeinsam finden sie Worte für das, was sie als Teenager noch nicht benennen können. Inmitten der harten Lebensbedingungen der sogenannten Gastarbeitererleben wir eine zarte, sich entwickelnde Beziehung zwischen Luca und Hans, die in einer Zeit aufblüht, in der gleichgeschlechtliche Liebe gesellschaftlich verpönt ist.
Marcello Liscia hat mit „Ein verregneter Sommer“ einen wunderbaren und einfühlsam erzählten queeren Roman geschaffen, der tief ins Herz geht. Die Geschichte von Luca und Hans ist nicht nur eine ergreifende Liebesgeschichte, sondern auch ein eindrucksvolles Porträt der Lebensbedingungen und Herausforderungen, denen Gastarbeiter im Nachkriegsdeutschland gegenüberstanden. Liscia beschreibt mit großer Detailtreue und Empathie die Mühen und den Alltag jener Menschen, die maßgeblich zum wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands beigetragen haben, sowohl die Höhen als auch die Tiefen.
Besonders beeindruckend ist, wie der Autor die Gefühle und inneren Konflikte der beiden jungen Männer schildert. In einer Zeit, in der gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht nur verpönt, sondern auch gefährlich waren, entwickelt sich zwischen Luca und Hans eine zarte, vorsichtige Liebe. Der Roman vermittelt eindrucksvoll die Unsicherheit und das Suchen nach dem eigenen Platz im Leben, das Luca begleitet. Wo gehört er hin? Ist es verboten, Gefühle für einen anderen Mann zu entwickeln? Seine Fragen nach Zugehörigkeit und der Erlaubtheit seiner Gefühle sind universelle Themen, die auch heute noch aktuell sind. „Ein verregneter Sommer“ erinnert uns nämlich daran, dass Vorurteile und Ausgrenzung nicht nur Probleme der Vergangenheit sind. Auch heute müssen wir uns diesen Herausforderungen stellen und für eine offene und tolerante Gesellschaft kämpfen. Der Roman zeigt, dass die Suche nach Identität und Liebe oft mit großen Hindernissen verbunden ist, aber auch mit Momenten großer Schönheit und tiefer Verbundenheit. Die Figur des Luca, der zwischen den Welten von Italien und Deutschland, Tradition und Moderne, Pflichtgefühl und Selbstfindung steht, ist besonders bewegend. Seine innere Zerrissenheit und sein Mut, seine Gefühle zu akzeptieren und auszudrücken, machen ihn zu einem unvergesslichen Protagonisten.
Marcello Liscia hat mit „Ein verregneter Sommer“ eine Geschichte geschaffen, die nicht nur eine bewegende Liebesgeschichte erzählt, sondern auch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Geschichte leistet. Wir können uns heute nur schwer vorstellen, wie es damals als Gastarbeiter oder als queere Person sein musste. Der Roman zeigt, wie Liebe und Menschlichkeit trotz aller Widrigkeiten gedeihen können, egal wie viele Steine man in den Weg gelegt bekommt.
Dieses wunderbare, queere Buch hat mich tief berührt und wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben. Es ist ein wertvolles literarisches Werk, das sowohl historische als auch gegenwärtige Themen aufgreift und uns daran erinnert, dass die Suche nach Liebe und Akzeptanz zwar eine beschwerliche Reise sein kann, die sich aber definitiv immer lohnt.