Cover des Buches Der Report der Magd (ISBN: 9783492311168)
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Rezension zu Der Report der Magd von Margaret Atwood

Heute nicht weniger aktuell als 1985

von RyekDarkener vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Beeindruckend, poetisch, verstörend, hochaktuell.

Rezension

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RyekDarkenervor 6 Jahren
Die Geschichte der Magd ist hinlänglich bekannt. Sie war zur Zeit, als sie veröffentlicht wurde, ein wichtiges Buch. Und sie ist es heute mehr denn je.
Die Handlung lässt sich, ohne zu spoilern, kurz umreißen: Eine von den Frauen, deren Aufgabe es geworden ist, unter allen Umständen für Nachkommenschaft zu sorgen, wird für eine Weile ihres Lebens begleitet. Das Buch erzeugt seine Faszination nicht durch die actiongeladene Handlung einer wehrhaften Protagonistin, sondern durch den Blick durch die Augen und in den Kopf von Desfred, der Magd.

Desfred erschreckt, trotz ihrer Intelligenz und Schlauheit, oft durch vollkommen nachvollziehbare Naivität. Ich finde sie extrem zwiespältig. Ihr Wissen und ihre Gefühle finden auf einer Metaebene statt, aus der sie sich nicht herauswagt. Sie ist durchaus differenziert in ihren Betrachtungen. An die Zeit 'davor' denkt sie nicht mit verklärter Historienbetrachtung zurück. Es gab #meetoo und die Unterdrückung von Frauen in Gesellschaft und Beruf. Nun haben alle Frauen, die gebärfähig sind, Schutz und eine Aufgabe. Desfred hat nie verstanden, wofür ihre unangepasste Mutter gekämpft hat. Sie hat nie verstanden, dass der Kampf um Freiheit nicht irgendwann gewonnen sein wird, sondern dass Freiheit nur dann funktioniert, wenn eine Mehrheit sich dafür einsetzt. Jeden Tag.

In der schönen neuen Welt der Mägde ist es durchaus nicht so, dass die Männer die Gewinner sind. Sie mögen ihre herrschende Position zementiert haben, aber sie zahlen einen hohen Preis dafür. Denn das genormte Verhalten ist allgegenwärtig und die häufigste Strafe für Abweichung ist – geschlechtsunabhängig – der Tod. Wer kann, entflieht zumindest für eine Zeit in eine Parallelwelt, die eigentlich verboten ist. Dort trifft Desfred eine frühere, rebellische Freundin. Die letztendlich ebenfalls aufgegeben hat.

Die Frauen nehmen aktiv und unterstützend an einem System, das ihnen alle Freiheiten genommen hat, teil. Zum Beispiel als 'Tanten' bei der Umerziehung ihrer Geschlechtsgenossinnen zur 'Magd'. Reiner Zufall oder Zwang? Ich denke, dass das von der Autorin gewollt ist. Ein zarter Hinweis darauf, wer seit jeher den größten Teil der Erziehung auf der Welt verantwortet. Keine Schuldzuweisung, kein erhobener Zeigefinger, schlicht Fakt. Und ganz sicher keine Entschuldigung für das, was passiert. Die Ambivalenz des menschlichen Daseins auf den Punkt gebracht. Anpassung war und ist immer bequemer als für seinen eigenen Standpunkt zu werben.
Daher fände ich die Reduzierung dieses Buches auf die Aussage, dass hier in dystopischer Weise von der Entrechtung der Frauen erzählt wird, viel zu kurz gesprungen. Die Welt, in der Desfred lebt, ist eine einsame, verrückte, kalte Welt. Für die, die herrschen, genauso wie für die, die beherrscht werden.
Desfreds Mutter steht für das, was Desfred nie verstanden hat. Was sie als selbstverständlich hinnahm, bis es ihr und allen anderen Menschen ohne großen Widerstand genommen wurde.
Wenn man bedenkt, dass zur Zeit, als dieser Roman geschrieben wurde, der Umgang mit elektronischen Bezahlsystemen eher die Ausnahme darstellte, kann man die betreffende Passage, die das vorwegnimmt, was heute als Digitalisierung bezeichnet wird, prophetisch nennen. In der Welt von Online-Transaktionen braucht es genau eine Sekunde, um jeden beliebigen Menschen und jede beliebige Menschengruppe zur Geisel zu nehmen.
Darum geht es letztendlich. Das, was uns Menschen zu Menschen macht, zur Geisel zu nehmen. Für die Erfüllung eines oft religiös verbrämten Zieles einer selbsternannten Elite.
Das verstörende an diesem Text ist nicht das Schicksal von Desfred. Sondern die Selbstverständlichkeit und Reibungslosigkeit, mit der Systeme etabliert werden können, die Desfreds möglich machen.
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