Agatha Christie, Dorothy L. Sayers, P. D. James. Wenn von den „Grand Dames“ des englischen Kriminalromans die Rede ist, fällt vor allem im deutschsprachigen Raum ein Name zumeist nicht: Margery Allingham. Während oben genannte Schriftstellerkolleginnen hierzulande in jeder gut sortierten Buchhandlung noch zu finden sind, konnte sie bei uns nie den Bekanntheitsgrad bzw. den Stellenwert erreichen – und das obwohl sie das Genre des „Whodunit“ in Form ihrer Serienfigur, dem Hobby-Detektiv Albert Campion, entscheidend mitgeprägt und vor allem auch weiterentwickelt hat. Zum ersten Mal erschien dieser im Jahr 1929 in „Der italienische Dolch“ (auch veröffentlicht unter „Mord in Black Dudley“) auf der Bildfläche. Ein Gentleman und Adliger wie Sayers' Lord Peter Wimsey, allerdings auf den ersten Blick weit naiver und noch exzentrischer als dieser gestrickt. So ist der Name nur ein Pseudonym und auch die genaue Herkunft wird allenfalls angedeutet. Auf den ersten Blick könnte er also ein Jedermann sein. Ein geschickter Kniff seitens Allingham, die sich damit deutlich von den Protagonisten der anderen Autoren abhebt und gleichzeitig dem Leser einen weit schnelleren Zugang zur Hauptfigur erlaubt, als das bei den genialen Alleskönnern von Schnüfflern sonst der Fall ist. Natürlich vorausgesetzt, dass man die eigenwilligen Ecken und Kanten sowie die ganze verschrobene Art Campions zu schätzen weiß. Und hier finden sich vielleicht die ersten Gründe für Allinghams geringen Erfolg in Deutschland.
Allinghams Bruch mit den üblichen Stilelementen des Genres, zumindest was die Hauptfigur angeht, stellt trotz dessen „menschlichen“ Eigenheiten auf der anderen Seite auch eine gewisse Hürde dar, welche vom Leser erst mal übersprungen werden muss und will. Schon im Erstling verblüfft diese Personenzeichnung, zumal Campion sich nie wirklich im Mittelpunkt der Handlung befindet bzw. es die Autorin vermeidet, den roten Faden gänzlich über ihn laufen zu lassen. Diese eigenwillige Wahl der Perspektive ist genauso Allinghams Markenzeichen wie der „reichlich lästige Humor“ (Bemerkung einer Figur im Buch über Campion) des Detektivs, welcher im zweiten Band der Reihe nun umso präsenter ist. Entgegen des üblichen trockenen britischen Amüsements kommt der Witz hier weit alberner daher, was sich erst in den folgenden Romanen relativiert, in denen Campion mit fortschreitendem Alter viel von seiner Leichtfertigkeit und dem Zynismus verliert. In „Gefährliches Landleben“ ist davon jedoch noch nicht viel zu spüren. Und auch der Plot ist ein typisches Produkt der „Goldenen Ära“:
Die Gerüchteküche brodelt, und es werden bereits Wetten darüber abgeschlossen, wie lange der Amerikaner Crowdy Lobbett noch zu leben hat. Der alte Richter hat mit großem Glück bereits vier Mordanschläge überlebt, doch scheint ihn das wenig zu beunruhigen. Nur widerwillig lässt er sich von seinem Sohn auf eine Schiffsreise nach England überreden, doch schon auf der Überfahrt hat man es wieder auf Crowdy Lobbett abgesehen: In letzter Sekunde greift Albert Campion ein, der zufällig an Bord ist, und rettet dem alten Herrn das Leben. Als der Richter, in London angekommen, ein weiteres Mal nur knapp einem Anschlag entgeht, wird seinem Sohn klar, dass er mit Hilfe der Polizei allein das Leben seines Vaters nicht wird retten können.
Er wendet sich an Albert Campion, der Crowdy Lobbett bei seinen Verwandten in Suffolk vorübergehend in Sicherheit bringt. So glaubt er zumindest, doch bald schon wird er eines Besseren belehrt. „Simister“, ein geheimnisumwobener Krimineller, den Richter Lobbett sein Leben lang bekämpft hat, stellt ihm selbst bis dorthin nach. Denn dem berühmten Simister entkommt der Legende nach niemand – nicht einmal ein Privatdetektiv vom Format eines Albert Campion...
Auch wenn es angesichts heutiger Vertreter des Whodunit-Genres schwer zu glauben ist: Nicht alle Titel der hierzulande oft als „Häkel“-Krimi verschrieenen Sparte kamen immer derart gemächlich und gemütlich daher, wie die Titel der bereits genannten Schriftstellerinnen Agatha Christie oder Dorothy Sayers. Es gab durchaus Ausnahmen – und Margery Allingham muss hier in jedem Fall dazu gezählt werden, da weder das deduktive Moment viel Platz innerhalb der Handlung einnimmt, noch alles in eben dieser auf die spektakuläre Auflösung vor den versammelten Verdächtigen hinausläuft. Stattdessen herrscht von Beginn an ein flottes Tempo, sowohl was die Schauplatzwechsel als auch die Aktionen der Protagonisten angeht. Anstatt grübelnd und Pfeife rauchend in einem Sessel zu verharren, ist Campion ein Mann der Tat, der stets in Bewegung sein muss und den Klamauk der ernsten Belehrung vorzieht. In gewisser Weise ein Etikettenschwindel, verbirgt sich doch hinter dem naiv-albern anmutenden Witzbold ein scharfsinniger Denker, der seine Stärken bewusst versteckt, anstatt sie wie Hercule Poirot mit stolzgeschwollener Brust in jeder Situation beweisen zu müssen. Wie Robert Robinsion („Die toten Professoren“) oder Edmund Crispin („Der wandernde Spielzeugladen“) stellte Allingham hier schon früh unter Beweis, dass Komik und Spannung sich nicht ausschließen müssen.
Trotz aller Modernität – das viktorianische Zeitalter ist bei Allingham im Gegensatz zu vielen anderen Autorinnen tatsächlich Geschichte – in Punkto Setting bedient sich selbst sie beim Fundus der üblichen Schauplätze. Ein abgelegenes Landhaus auf einem Eiland, nur durch einen kleinen Damm mit dem Festland verbunden. Umgeben von nebligen Sümpfen, Salzmarschen und Bodennebel. In der näheren Nachbarschaft nur ein altes Pfarrhaus und ein kleines Dutzend verschrobener Dorfbewohner. Die typischen Zutaten wurden eifrig beigemengt und sorgen im Verbund mit der mysteriösen Ausgangslage für eben dieses Flair, das nur englische Detective-Novels entwickeln können. Dabei werden fleißig falsche Fährten gelegt, wenngleich sich Allingham größere „Twists“ innerhalb der Handlung verkneift und dadurch eher den Weg zum Ziel erklärt. Als Folge dessen werden wohl selbst gelegentliche Krimi-Leser den Täter relativ schnell identifizieren können. Dem Lesespaß tut dies jedoch keinerlei Abbruch – im Gegenteil: Dieses Manko wird durch den genialen Showdown wahrlich mehr als wett gemacht.
So ist „Gefährliches Landleben“ ein unheimlich kurzweiliger und trotz viel Komik äußerst stimmungsvoller Krimi-Klassiker, der eine erfrischende Abwechslung in der sonst eher ernsten Genre-Gesellschaft darstellt. Ich freue mich bereits auf den dritten Band der Reihe!