Rezension zu "Der Tote im Tower" von John Dickson Carr
Im Vergleich zu den meisten anderen Genrevertretern seiner Zeit ist John Dickson Carr mittlerweile vielerorts in Vergessenheit geraten. Während eine Agatha Christie alle Jahre eine Neuauflage erfährt, Dorothy L. Sayers gleich in mehreren Verlagen erscheint, sind die Titel des amerikanischen Autors allesamt vergriffen. Eine Tatsache, die allein schon nach der Lektüre dieses Buches nicht nachzuvollziehen ist.
Carr, an der Ostküste der Vereinigten Staaten geboren, hat wohl wie kaum ein anderer den klassischen englischen Mystery-Krimi geprägt und zudem das "Locked-Room"-Thema aus der Taufe gehoben. Seine Bewunderung des alten Europas hat sich nicht nur im persönlichen Leben, er war Mitglied im Londoner "Detection"-Club, sondern besonders im Stil seiner Bücher widergespiegelt. Die Schauplätze der Bücher sind stets verfallene Gebäude, marode Gemäuer und gespenstische Villen, der Plot immer vom Hauch des Gespenstischen umgeben. Und das ist auch im zweiten Band mit dem Privatdetektiv Dr. Gideon Fell nicht anders. Diesmal bildet der Tower von London die schaurig, neblige Kulisse des Krimis, einem klassischen Whodunit, in dem sich Carr einmal mehr als Meister der Atmosphäre erweist.
Es sind acht Monate seit den Ereignissen in Chatterham vergangen und Rampole, der damals Fells exzentrische Ermittlungen im Fall Starbeth aus nächster Nähe verfolgen durfte, trifft diesen nun samt Chief Inspector Hadley von Scotland Yard in einem Londoner Pub wieder. Letzterer ist mit seiner Behörde in den letzten Tagen zum Gespött der Öffentlichkeit geworden, denn ein mysteriöser Hutdieb treibt in der Hauptstadt seine Unwesen und hält die Justiz zum Narren. Polizisten, Adligen und anderen angesehenen Männern hat man die Kopfbedeckung entwendet, um sie schließlich an den verschiedensten Stellen zu platzieren. Ein bisher amüsanter Schabernack, der auch dank der Kolumne des Journalisten Philipp Driscoll für immer mehr Erheiterung in der Bevölkerung sorgt. Selbst der ehemalige Politiker Sir William Bitton gehört zu den Betroffenen. Dem fleißigen Buchsammler ist zudem auch ein bisher unveröffentlichtes Manuskript von Edgar Allan Poe gestohlen worden, was für Hadley nach einem interessanten Fall für Dr. Fell aussieht. Der zeigt sich wenig interessiert, bis die illustre Runde im Pub von einer Schreckensmeldung unterbrochen wird: Eine Leiche ist im Tower am Traitor's Gate aufgefunden worden. Getötet mit einem Armbrustpfeil durchs Herz. Auf dem Kopf der Zylinder von Sir William. Und noch schlimmer: Bei dem Toten handelt es sich um Williams Neffen. Philipp Driscoll...
Es kommt was kommen muss. Gemeinsam begibt man sich zum vom Nebel umhüllten Tower und nimmt die Ermittlungen auf. Der Leser als gefesselter Beobachter an ihrer Seite. Und packend ist dieser Krimi von Seite eins an. Das liegt nicht nur an der düsteren, herrlich schaurigen Atmosphäre, sondern auch an den vielen falschen Fährten, die Carr legt und durch die als einziger Dr. Fell selbst durchzublicken scheint. Der lässt auch diesmal nichts unversucht, um seine Mitstreiter in den Wahnsinn zu treiben. Mit scheinbar enervierendem Desinteresse und völlig aus dem Kontext fallenden Fragen, bringt er mehr als einmal Hadley gegen sich auf, was natürlich für die komischen Akzente in diesem Whodunit sorgt. Dass dies nur Show ist, wird der geneigte Fell-Leser wissen und am Ende ist es natürlich der Detektiv Höchstselbst, der die Indizien zusammenträgt und zu einer Lösung fügt.
Im Gegensatz zum ersten Band "Tod im Hexenwinkel" werden nun auch einige Mysterien um die Person Gideon Fell gelüftet. Man erfährt von seiner Tätigkeit in der Spionageabwehr während des ersten Weltkriegs, was auch die billigende Unterstützung der Yard-Beamten besser erklärt. Garniert wird dieser herrlich verschrobene, unheimlich packende Fall von einer ganzen Scharr skurriler Figuren, die nicht typisch englischer hätten werden können, und vom Vorzeige-Butler bis zum alten General die gesamte Palette abdecken. Carr übertreibt hier augenscheinlich mit offensichtlichen Vergnügen, das sich bereits nach wenigen Seiten auch auf den Leser überträgt.
Insgesamt ist "Der Tote im Tower" ein herrlich-atmosphärisches Krimi-Meistwerk des "Golden Age", das aufs Beste unterhält und uns geistig sogleich ins gute, alte England zurückversetzt. Wie immer überzeugt die Ausgabe der Dumont-Kriminalbibliothek dabei mit einem informativen Nachwort und einem aufschlussreichen Lageplan. In diesem Fall eine Skizze des Londoner Towers, welche im Verlauf der Lektüre immer mehr an Nützlichkeit gewinnt.