Eines gleich vorweg: Dieses Buch ist nichts für Leser, die leichte Unterhaltung gewohnt sind und eine solche erwarten. Dieses Buch ist starker Tobak. Das betrifft eigentlich nicht den Inhalt - denn das ist eine Art Abgesang auf die Donaumonarchie in der Zeit um den Ersten Weltkrieg -, nein, es betrifft die Sprache und natürlich auch die Länge dieses Romans.
"Dessen Sprache du nicht verstehst" hat nämlich über 3.000 Seiten. Ja, in Worten: dreitausend! Das ist eine Menge Text, und man darf sich zudem nicht eine lineare und in irgendeiner Weise klare Geschichte erwarten.
Aber zuerst möchte ich auf die Sprache eingehen: Marianne Fritz schreibt zwar deutsch, aber ich könnte mir vorstellen, dass genau das von manchen in Abrede gestellt wird. Was einem da vorgesetzt wird, ist kein gewöhnliches Deutsch. Die Grammatik wird in gewisser Weise ignoriert, und vor allem die Zeichensetzung ist äußerst eigenwillig und gewöhnungsbedürftig. Der gesamte Sprachstil ist gewöhnungsbedürftig, und ich meine, dass er sich nur jenen erschließt, die bereit sind, sich auf dieses ungewöhnliche Sprachkunstwerk einzulassen, wozu es auch einer gewissen Offenheit bedarf.
Was diese ungewöhnliche Sprache so einzigartig macht, ist ihr Rhythmus. Ich habe sicherlich sechzig bis hundert Seiten und insgesamt drei Neuanläufe gebraucht, bis ich in diesen Roman "Einlass" fand. Dann aber erschloss sich mir eine wundersam rhythmische Sprache, und ich hatte das Gefühl, ich würde beim Lesen gleichsam wie im Flug über die Sätze hinweggleiten und in einer ihnen eigenen Melodie mitschwingen.
Allein diese Sprachfertigkeit, die Marianne Fritz von Buch zu Buch immer weiter entwickelt hat und die in diesem Roman möglicherweise einen Höhepunkt darstellt (in "Naturgemäß" soll sie es dann laut manchen Kritikern übertrieben haben, aber das kenne ich noch nicht, also kann ich es nicht beurteilten), macht aus diesem Buch meines Erachtens ein Jahrhundertwerk, das in einem Atemzug mit Finnegans Wake, Hundert Jahre Einsamkeit und Zettels Traum genannt werden sollte.
Inhaltlich dreht sich alles um die Familie Null. Allein dieser Name lässt schmunzeln und enthält eine ganze Kiste voller Interpretationsmöglichkeiten. Die Familie lebt in der Stadt Nirgendwo, in der wohl die Monarchiehauptstadt Wien zu erkennen ist. Die Familie Null ist eine Arbeiterfamilie, und ihre vielen Mitglieder zeigen eine ganze Palette von Normalbürgern, gescheiterten Existenzen und Lebenskünstlern. Es ist zugegebenermaßen schwer, den vielen Handlungssträngen wirklich zu folgen - ich hielt mich an ein paar zentrale und nahm den Rest quasi als buntes Beiwerk hin. Mehr als tausend Protagonisten enthält dieser Roman, und da nimmt es nicht Wunder, wenn man sich die meisten Namen schlichtweg nicht merken kann.
Wie schon gesagt, geht es um den Niedergang der österreichischen Doppelmonarchie. Da mögen Gedanken an Der Mann ohne Eigenschaften und Radetzkymarsch anklingen, doch Marianne Fritz, die leider zu früh, nämlich im Alter von neunundfünfzig im Jahr 2007, verstarb, gelang es, ein solches Epos sprachlich und gestalterisch in die 1980er Jahre zu heben.
Der Roman erschien bei Suhrkamp in zwei Versionen: Eine dreibändige "Luxusversion" und eine zwölfbändige Ausgabe, ebenfalls in gebundenen Büchern, aber deutlich preiswerter. Heute findet man diese Bücher in der Regel nur in Antiquariaten, doch ich finde, der Weg lohnt sich. Ich selbst habe meine zwölfbändige Ausgabe vor ein paar Jahren sehr kostengünstig bei Amazon erstanden und sie, nach den genannten Anlaufschwierigkeiten, mehr oder weniger verschlungen, da mich das Sprachexperiment der Autorin regelrecht entzückt hat.
Ein Tipp noch zum Abschluss: Man sollte beim Lesen keine allzu große Pausen einlegen, denn dann werden sich die zahlreichen und komplexen Handlungsstränge mit hoher Sicherheit aus dem Gedächtnis verabschieden.
"Dessen Sprache du nicht verstehst" ist ein Sprachkunstwerk sondergleichen und ein Jahrhundertwerk, wie es wohl lange nicht mehr geschrieben werden wird. Und wer bereit ist, sich auf diese Literatur einzulassen, wird Marianne Fritz' Sprache sehr wohl verstehen ...