Rezension zu "Borderline" von Marie-Sissi Labreche
"Aber am allermeisten, mehr als vor allem anderen, habe ich Angst, nicht geliebt zu werden. Also mache ich die Beine breit, um den Himmel zu sehen oder ein kleines Stückchen Paradies. Ich mache die Beine breit, um zu vergessen, wer ich bin, ich mache die Beine breit, um zu funkeln wie ein kleiner Stern. Ich liebe mich so wenig, da kann ich ebenso gut die Beine breit machen für alle, die aussehen, als würden sie mich wenigstens ein bisschen lieben."
Zitat aus: "Borderline" von Marie-Sissi Labréche
WOW. Mehr braucht man zu dem Buch eigentlich gar nicht sagen. Es ist einfach genial. Authentisch. Berührend. Einfach WOW halt.
Anfangs war ich noch etwas skeptisch. Der Schreibstil ist.. gewöhnungsbedürftig. Es scheint, als ob Marie-Sissi Labréche einfach direkt aus der Seele schreibt. Einfach das, was sie gerade denkt oder fühlt. Manchmal chaotisch - doch genau so fühlen sich Borderline-Persönlichkeiten halt fast immer. Wieso soll der Leser also nicht auch etwas davon mitbekommen?
Nicht nur wegen dem Schreibstil war ich skeptisch, sondern auch, weil es zu Beginn den Eindruck erweckt, es ginge in dem Buch hauptsächlich um Bettgeschichten. Ich lese zwar gerne Erotikbücher, aber hier habe ich halt was anderes erwartet. Und auch bekommen. Zwar geht es im Laufe des Buches mehrmals um Sex - und dies auch mit einer so eindeutigen Ausdrucksweise, dass es vielleicht manchen Leser schockiert -, doch wird auch schnell deutlich, dass es hierbei eigentlich nur um die Sucht nach Liebe der Protagonistin geht.
Die Angst, nicht geliebt zu werden, ist eine der größten Ängste der meisten Borderliner. Und genau diese Angst kommt auch in Marie-Sissi Labréches Buch "Borderline" sehr gut rüber.
Wenn man sich Rezensionen zu diesem Buch durchliest, stellt man sehr schnell fest, dass die Meinungen zweigeteilt sind. Während die einen Leser von dem Buch begeistert sind, finden andere es überhaupt nicht gut und meinen, es würde zu wenig über Sissis Gefühlswelt geschrieben. Die Gefühlswelt einer Borderlinerin.
Diese Kritik kann ich allerdings überhaupt nicht nachvollziehen.
"Sie werden rausbekommen, dass ich eine Schwindlerin bin, eine Fastnachtschwindlerin, eine maskierte Schwindlerin, eine Schwindlerin, die sich für Cinderella hält und denkt, sie kann sich selber mit dem Zauberstab der anderen magische Nächte bereiten."
"Ich bin meine eigene Bombe. In meinem Kopf ist immer Hiroshima. (...) Ich bin mein schlimmstes Drama. Noch schlimmer: Ich habe mich gefunden, bevor ich mich gesucht habe. Ich habe mich gefunden, und seitdem werd ich mich nicht mehr los. Wenn ich doch nur ein Leben ausleihen und mich darin ausruhen könnte; mich ausruhen davon, dass ich mich immer so runtermache, immer so an mir selber klebe."
"Ich lasse mich gehen, ich lasse mit mir machen. Ich wähle nicht, ich lasse die anderen wählen, wer mich will, der nimmt mich, wie eine Puppe."
"Mir ist es, als könnten alle Leute in mich hineinsehen. Ich bin durchsichtig. So durchsichtig, dass ich schreien muss, damit man mich sieht. Ich muss Lärm schlagen, damit man mich beachtet. Darum weiß ich auch nie, wann es genug ist. (...) Nichts ist festgelegt in meinem Leben: wer ich bin, was ich mal tun werde, was ich wert bin, worauf ich stehe (...)"
Zitate aus: "Borderline" von Marie-Sissi Labréche
Dies sind nur ein paar Zitate, die als Beispiele dienen, wie die Autorin ihr Gefühlsleben beschreibt. Die meisten (Auto-)Biografien zielen darauf ab, eher nüchtern und sachlich zu erzählen, wie man sich fühlt(e) und wie man es geschafft hat, sich besser zu fühlen.
Marie-Sissi Labréches Schilderungen hingegen schlugen zumindest bei mir sozusagen ein wie eine Bombe. Ich war gefesselt, berührt, bedrückt, traurig und so vieles anderes zugleich. Sie trifft mit ihren Beschreibungen einfach direkt ins Schwarze und schildert ungeschönt und klar, wie sich viele Borderliner fühlen. Ob die Sucht, sich geliebt zu fühlen, die fehlende Identität oder die eigene Herabsetzung - es ist einfach perfekt beschrieben!
Wer gar nicht weiß, was Borderline überhaupt ist, wird mit diesem Buch allerdings nicht unbedingt so gut beraten sein. Labréche verzichtet auf die üblichen Erklärungen und Beispiele für die Symptome, die zu einer Borderline-Diagnose führen. Vielleicht würden komplett Unwissende sich bei der Lektüre eher denken "Was ist das denn für eine Verrückte?". Doch mindestens für Betroffene ist "Borderline" eines der besten Bücher, denke ich.
Eindrucksvoll sind auch die Episoden aus Sissis Kindheit. Der Leser kann nachvollziehen, woran sie kaputt gegangen ist. Wie die verzweifelte Frau entstanden ist. Sehr emotional ist auch ihr Verhältnis zur Großmutter, die ihr manches Mal das Leben zur Hölle gemacht hat und die Sissi trotzdem so sehr braucht. Trotzdem erfolgt die Schilderung der Ereignisse ohne jegliche Schuldzuweisung. Labréche schildert einfach nur. Emotional. Offen. Aber ohne jemandem die Schuld zu geben.
Sissi ist immer auf der Suche nach Liebe. Oder zumindest nach dem Gefühl, geliebt zu werden. Sich geliebt zu fühlen. Obwohl sie sich immer schlecht dabei fühlt, hat sie kaum Männer im Bekanntenkreis, mit denen sie noch nicht geschlafen hat. Denn dann fühlt sie sich geliebt. Gebraucht. Die innere Leere wird für einen Moment gefüllt. Bis im Anschluss die Suche weiter geht.
Ich habe schon viel zu viel geschrieben und könnte noch so viel mehr schreiben. Dabei hätte wirklich ein einfaches "WOW" gereicht. Sämtliche Worte können sowieso nicht dem gerecht werden, was ich bei dem Lesen dieses Buches empfunden habe.
Es ist ein fantastischer Einblick in das Seelenleben einer Borderline-Persönlichkeit.