Inhalt
Noch im Säuglingsalter wird Marie aus ihrer Familie geholt, zusammen mit ihren fünf älteren Geschwistern. Zwei Jahre alt, wird sie von einer Pflegefamilie aufgenommen. Nach außen hin die perfekte Familie, liebevoll, fürsorglich, glücklich. Doch was sich hinter den Hauswänden abspielt, ist das reinste Grauen.
Augen auf!
Das jahrelange Martyrium eines Pflegekindes
Wir alle sind Weltmeister im Wegschauen. Das sind Marie Anhofers abschließende Worte nach ihrem erschütternden, autobiografischen Roman über ihre Kindheit in einer Pflegefamilie. Wie viel Kraft es sie gekostet haben mag, dieses Buch zu schreiben und zu veröffentlichen, das kann ich mir nur in Ansätzen vorstellen.
Als Kleinkind kommt sie zu einer Pflegefamilie, die bereits zwei Töchter hat. Richtige Prinzessinnen. Sie werden nach Strich und Faden verwöhnt, mit Liebe und Nachsicht überschüttet. Aber Marie? Ihr wird schnell klargemacht, dass sie nur des Geldes wegen ein Zuhause bekommen hat. Wobei der Begriff Zuhause nicht wirklich passt. Ihr wird der Kellerraum zugewiesen, kalt, nass, voll von Ungeziefer. Die Tür wird abends zugesperrt, wenn sie sich nachts erleichtern will, muss sie es auf dem gestampften Boden im Vorratskeller tun.
Marie schildert uns etappenweise ihr Leben bis ins Erwachsenenalter, sie erzählt von den Bestrafungen, die sie tausendfach über sich ergehen lassen musste. Bestrafungen, die sich Lichtjahre entfernt jeglicher Vorstellungskraft bewegen. Sie erzählt von ihren Versuchen sich anderen mitzuteilen. Ihre eigene Schwester, die ebenfalls in einer Pflegefamilie unweit von Maries Wohnort aufwächst, glaubt ihr nicht. Deren Pflegemutter möchte gern helfen, jedoch schlägt sie einzig vor, Maries Pflegemutter zu benachrichtigen. Alles, nur das nicht, denkt Marie. Auch später wird sie auf kein Gehör treffen, ganz gleich wie viele Hilfesignale sie in die Welt hinaussendet. Die unzähligen Fehlstunden in der Schule, weil ihre Verletzungen zu groß waren – hat keiner in Frage gestellt. Ihre Versuche zu rebellieren – interessierten niemanden. Das emotionale Loch, in das sie schließlich fällt – geht niemanden etwas an. Schikaniert, drangsaliert, in der Schule von den Mitschülern, daheim von der Pflegemutter, dem Pflegevater und deren Kindern. Das ist ihr Alltag, sechzehn Jahre lang.
Selbst als sie den Mut aufbringt und zu ihrer Sozialarbeiterin fährt, ihr alles schildert und ihre Narben zeigt, passiert nichts. Wenn sie es jetzt schon so lang ausgehalten habe, so schafft sie auch noch die letzten zwei Jahre bis zu ihrer Vollmündigkeit. Dafür gibt es keine Worte, die die Betroffenheit auszudrücken vermögen, die mich bei diesem Abschnitt befallen hat.
Auch später ist ihr Leben ein steiniger Weg voller Fallen, Bodengruben, in die sie abzustürzen droht. Immer wieder konfrontiert mit den Ängsten, die ihr in jahrelanger Qual eingepflanzt wurden. Von Reue seitens der Familie keine Spur, keine Entschuldigung vom Jugendamt für das wissentliche Nichteingreifen. Nichts.
Ich weiß, es ist ein hartes Thema, etwas, das unsere heile Welt brüchig werden lässt. Aber wir dürfen nicht länger wegschauen. Wenn jemand zu euch kommt und euch um Hilfe bittet, helft ihm. Wenn ihr bemerkt, dass bei einem Kind irgendetwas nicht so zu sein scheint, wie es sollte, fragt nach. Lasst euch nicht abwimmeln, bleibt dran. Wenn ihr in der Nachbarschaft Schreie von Kindern hört, immer und immer wieder, sagt euch nicht, es geht euch nichts an. Denn es geht jeden etwas an. Wenn wir nicht wegschauen würden, wenn wir für die da wären, die es am dringendsten nötig haben, würden solche Geschichten nicht erzählt werden müssen. Und doch werden sie erzählt. Und ihr solltet sie lesen.