Rezension zu "Was man sät" von Marieke Lucas Rijneveld
Das für mich herausforderndste und verstörendste Buch in 2022 hab ich nun gefunden. Kurz vor Weihnachten wünscht sich Jas nur eins: ihr geliebtes Kaninchen soll nicht der Schlachtbank zum Opfer fallen. Lieber soll der liebe Gott ihren Bruder holen. Beim Schlittschuhlaufen ist es dann so weit. Matthies bricht ein und ertrinkt.
In „Was man sät“ von Marieke Lucas Rijneveld erzählt Jas aus ihrer Sicht wie die Familie nach dem Unglück mehr und mehr zerbricht, wie sie dahinvegetiert, wie sich die Zeit weiterdreht und weitere Schicksalsschläge nicht lange auf sich warten lassen. Die Ehe der Eltern ähnelt nur noch einer reinen Zweckgemeinschaft, die Kinder werden vernachlässigt und fantasieren. Mit zunehmendem Alter probieren sie sich aus, werden gewaltbereiter, abgebrühter und skrupelloser. Es ist ein ewiger Albtraum aus fehlender Liebe, sexualisierter Gewalt, dem Umgang mit Trauer und Verlust. Die Geschichte hat von allem Negativen zu viel und von allem Positiven, das es irgendwo auf der Welt immer gibt, nichts. Eine Leseempfehlung kann ich nur für diejenigen aussprechen, die bereits „Die Infantin trägt den Scheitel links“ gelesen haben und damit klargekommen sind. „Was man sät“ fand ich weitaus heftiger und hat für mich noch viel mehr Grenzen überschritten. Sprachlich ist es großartig, die Atmosphäre ist perfekt eingefangen, sodass es sich auf alle Zeit einbrennt und unvergesslich bleibt. Am Ende bleiben nur ein Wow und ganz viel Gänsehaut übrig.
„Ich schaue zwischen meinen Fingern hindurch und sehe, wie sie zum Fenster geht, die Vorhänge aufzieht und sagt: „Schau, ich habe den Mond für dich geholt. Den Mond und alle diese funkelnden Sterne. Was will ein Bär noch mehr?« Liebe, denke ich bei mir, wie bei der Wärme im Kuhstall zwischen all den atmenden Blaarkoppen, die ein gemeinsames Ziel haben: überleben. Eine warme Flanke, an die ich meinen Kopf lehnen kann, wie beim Melken. Die Kühe stehen natürlich für Vater und Mutter. Sie können nicht mehr Liebe schenken, als dir von Zeit zu Zeit ihre raue Zunge entgegenzustrecken, wenn du ihnen ein Stück Futterrübe hinhältst.“
Übersetzt aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.