Rezension zu "Die Frauen der Familie Carbonaro" von Mario Giordano
Wunderschöner Roman, der es geschickt vermag, unterschiedliche Zeit- und Handlungsebenen zu verbinden. Der Schreibstil ist ruhig, erzĂ€hlerisch, ohne je hastig zu werden, auch wenn das Thema schrecklich oder brutal ist. Als ob die Sonne Siziliens alles verklĂ€ren aber auch alles ans Licht zerren wĂŒrde. Das Wunderschöne und Begeisternde, aber auch das Harte, Tödliche. Alles liegt offen, vor den Augen der Sizilianer.
Die MĂŒnchner Jahre der Familie Carbonaro hingegen sind von der deutschen Wirklichkeit der Zwischenkriegszeit und den BombennĂ€chten und Terror wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs, der fanatischen Nazi-Ideologie einiger Nachbarn und Schulkinder. geprĂ€gt.
Zu den schönsten und auch bedeutendsten Szenen des Buches gehört gleich die Eröffnungsszene. Der Autor erzĂ€hlt von der Begegnung mit drei Carbonaro-Frauen: UrgroĂmutter Pina, GroĂmutter Anna, Tante Maria, als Vertreterinnen aller Carbonaro-Frauen: âIch weiĂ, wo ich bin. Dies ist das Haus der Zeit, dort, wo Vergangenheit und Zukunft verschmelzen. In den Zimmern, SĂ€len, Kammern und Nischen sitzen die Geister eines vergangenen Jahrhunderts, raunen sich Dinge zu und runden die Kanten. Eines Tages werde ich einer von ihnen sein oder bin es bereits. Die drei Frauen vor mir sind meine Familie. Ich bon hier, um ihnen zuzuhören.â (S. 13). Der Autor hĂ€lt Wort, er hört diesen Frauen zu, lĂ€sst sie geduldig zu Wort kommen, lĂ€sst sie von ihrem harten Leben erzĂ€hlen, von den vielen Kindern, die sie geboren haben, von denen nicht viele ĂŒberlebt haben, wie sie ihr Schicksal auf sich genommen haben und um ihr bisschen GlĂŒck und Freiheit gekĂ€mpft haben.
Allen dreien blieb der Lebenstraum verwehrt: die eine wollte ihrem Mann im GeschĂ€ft zur Seite stehen, die andere wĂ€re gern SĂ€ngerin geworden, die dritte wĂ€re gern GroĂhĂ€ndlerin geworden, um sizilianische FrĂŒchte und SĂ€fte nach Deutschland zu exportieren. Sie durften oder konnten es nicht tun, weil sie Frauen in einer strikten MĂ€nnerwelt waren. Und doch hat jede von Ihnen es den Frauen in der nĂ€chsten Generation ermöglicht, wenigstens einen Teil ihrer TrĂ€ume zu verwirklichen. Sei es die Tochter, die öffentlich auftreten und singen darf, oder die Tochter, die eine höhere Schule besuchen kann. Diese drei Frauen besitzen einen doppelten Schatten, der sie als Nachfahrinnen von Meeresnixen ausweist. In Sizilien können andere Frauen ihre Schatten sehen und meiden sie. In MĂŒnchen hingegen sind diese Schatten nicht mehr sichtbar, sie können sich ungehindert auf den StraĂen bewegen.
Alle drei Frauen heiraten den Mann, den sie lieben, doch die MĂ€nner der ersten beiden Generationen sind Patriarchen, oder wĂ€ren es gern, zu stolz und zu schwach zugleich, auf Ihre Frauen zu hören. Nur Maria, die Frau aus der dritten Generation, heiratet nach einer groĂen EnttĂ€uschung in der Liebe endlich einen Mann, den sie liebt, der sie liebt, und der ihr vor allem zuhört und ihr helfen will, ihren Traum zu verwirklichen. doch er stirbt viel zu frĂŒh an einer unerbittlichen Krankheit und Maria muss ihre Firma verkaufen und kehrt mit ihrem Kind nach Sizilien zurĂŒck.
Das Buch endet in einer versöhnlichen und bejahenden Stimmung: âWir waren die Frauen der Familie Carbonaro⊠Wenn es Tag wurde, wĂŒrden wir wieder zwei Schatten werfen, aber wir fragten nicht mehr, wer wir sind. Wir sind das, was man von uns erzĂ€hlt.â (S. 503â