Der Wind aus dem Basento-Tal
Auf grandiose Weise schildert Mariolina Venezia mit den Mitteln des psychologischen Romans des 19. Jahrhunderts das Schicksal einer süditalienischen Familie über fünf Generationen, eng eingebunden in einen historischen Kontext, mit allen Höhen und Tiefen dieser Epochen.
Hauptschauplatz ist die stille und einsame Region der Basilikata, nach ihren Bewohnern auch Lukanien genannt. Im Süden, tief unten im italienischen Stiefel liegt sie, zwischen Apulien im Osten, Kampanien und Kalabrien im Westen. Ein raues und hartes Land, das nur Sonne im Überfluss hat und zu einer der ärmsten und unfruchtbarsten Gegenden des gesamten Südens zählt, aber einen Schatz von großem Ausmaß birgt: einen uralten und traditionellen Volksglauben.
Diese Region ist die Heimat der 1961 in Matera geborenen Autorin Mariolina Venezia. Mit "Tausend Jahre, die ich hier bin" gelang der Süditalienerin, ein Sensationserfolg in ihrem Heimatland. Das Buch stand nicht nur an der Spitze der Bestsellerlisten, sondern es wurde gleichfalls mit dem hoch angesehenen "Premio Campiello" ausgezeichnet.
Venezia erzählt die Geschichte einer Familie aus Grottole über fünf Generationen.
Zwei denkwürdige und markante Daten hat sich die Autorin für den Beginn und das Ende ausgesucht. Zum einen die Vereinigung zum Königreich Italien im März 1861, zum anderen der Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Osteuropa und der Fall der Berliner Mauer am 09./10. November 1989, mit dem Mariolina Venezias Familiensaga ausklingt. Dazwischen liegt ein Zeitraum von 128 Jahren, in denen sie von den unseligen Verwicklungen dieser Familie berichtet. Die zahlreichen persönlichen Einzelschicksale verknüpft die Autorin mit zum Teil großen geschichtlichen Ereignissen (Kampf gegen die Briganten, der Erste und Zweite Weltkrieg, Machtergreifung Mussolinis, die Einflüsse der Kommunistischen Partei, die Ermordung Aldo Moros).
Hilfreich im Wirrwarr der Generationen und ihrer Mitglieder ist ein kleiner Stammbaum, der am Beginn des Buches abgebildet ist.
Mariolina Venezia hat einen atmosphärisch dichten Roman in einer poetisch-magischen Sprache geschrieben, der durch Susanne Van Volxem, ohne seinen Zauber einzubüßen, wunderbar leichtfüßig aus dem Italienischen ins Deutsche übertragen wurde.
In einem ungeheuren Tempo, beinahe ohne Luft zu holen, lässt Venezia die Figuren - eingebettet in ihren geschichtlichen Hintergrund und fabelhaft subtilem Humor - vorbeiziehen. Sie verfügt über die Gabe, dem Leser beinahe alle Familienmitglieder - auch wenn sich einige nicht gerade durch besondere Liebenswürdigkeit auszeichnen - ans Herz wachsen zu lassen. Mariolina Venezia erkundet Seelenlandschaften.
Zudem hat sie einen Landstrich aufleben lassen, dessen bäuerliche Gesellschaft vielleicht zu radikal mit der Moderne konfrontiert wurde.
Heute ist die Basilicata eine Region, die zu neuer Vitalität erwacht. Sie besinnt sich auf ihre faszinierende politische Geschichte und auf ihre seit Jahrhunderten bestehende Mischung italienischer, lukanischer und griechischer Kultur, die sich in der Architektur, in der Sprache, der Musik, ihrer Küche und ihrer Tradition der mündlichen Überlieferung ausdrückt. "Es gibt zahllose Märchen und Kinderreime.", so die Autorin. Ein paar davon hat sie jeweils an den Anfang ihre Kapitel gesetzt.
Italien, so lautet die frohe Botschaft, hat ein vielfältigeres Gesicht als man gemeinhin annimmt; es gibt noch viele Regionen, besonders im Süden, zu entdecken - und unter ihnen eine ganz besonders reizvolle: die Basilicata!
Fazit:
Mariolina Venezia verarbeitet in "Tausend Jahre, die ich hier bin" ihre eigene Familiengeschichte und verwebt Anekdoten und Legenden ihrer Kindheit mit historischen Umbrüchen, die der Süden Italiens zu verkraften hatte.
Ein großartiges Zeitengemälde.