Rezension zu "Kindheit in Ostpreußen" von Marion Gräfin Dönhoff
Adel verpflichtet. Diese einfache Regel haben die Grafen Dönhoff zu allen Zeiten sehr ernstgenommen. Wie wohltuend setzt sich der hier vorgestellte ostpreußische Landadel von arroganten westlichen Adelsgeschlechtern ab, wie sie zum Beispiel in Karen Duves Annette-von-Droste-Hülshoff-Roman beschrieben werden. Trotz des gediegenen Wohlstands wurden die Grafenkinder auf dem Gut Friedrichstein kurz gehalten und zur Sparsamkeit erzogen. Sie halfen bei der Ernte, und ihre Schlafzimmer waren, im Gegensatz zu den repräsentativen Räumen des Schlosses, äußerst spartanisch eingerichtet. Zu vielen Schlossdienern und Landarbeitern hatten die Kinder ein gutes Verhältnis, und Dönhoff bemerkt augenzwinkernd: „Die Erziehung durch die Hausleute und Handwerker war [...] wirklich viel nachhaltiger als durch jene Theoretiker, die dafür angestellt waren.“ Die Kindheit, die Marion Gräfin Dönhoff in ihrem Buch beschreibt, war, trotz strenger Regeln, frei und unbeschwert. Mir gefällt, dass es Mädchen und Jungen waren, die gemeinsam die vielen Verbote brachen. Gemeinsam in der Nacht ausritten, wenn sie zeitweilges Reitverbot hatten, gemeinsam heimlich auf Gänsejagd gingen. Oder die Treppe in der Kleinen Halle auf einem Tablett hinunterrodelten ... „Und wenn einmal Verwandte oder Bekannte gleichaltrige Kinder mitbrachten, konnten wir gar nicht erwarten, dass sie wieder abfuhren, denn meist waren sie für unsere Zwecke ganz unbrauchbar: entweder zu fein oder zu ängstlich.“ Es verwundert nicht, dass hier wichtige Persönlichkeiten des späteren Kreisauer Kreises heranwuchsen.
Man erfährt einiges über das auf dem elterlichen Gut herrschende System des Fideikommiß, das den Gutherren und die Landbevölkerung zu einer konstruktiven gegenseitigen Abhängigkeit verpflichtete und, im Fall des Gutes Friedrichstein, offensichtlich sehr gut funktionierte, da es in gegenseitiger Wertschätzung praktiziert wurde. Die Gräfin räumt auch mit dem Vorurteil auf, die großen Güter des Ostens seien durch das sogenannte ausbeuterische „Bauernlegen“ entstanden.
In dem Kapitel über die polnischen Dönhoffs wird es allerdings für die unbedarfte Leserschaft etwas abgedreht; hier verlor ich schon mal den Überblick. Vielleicht hätte der heutige Leser auch manche Anekdote gern ein wenig aufgepeppter präsentiert bekommen, vielleicht auch ein wenig mehr in einem großen runden Zusammenhang. Aber was macht das schon? Die Erinnerungen der Gräfin sind ein einmaliger zeitgeschichtlicher Schatz. Ihre Schilderungen öffnen auf ungewöhnliche Weise den Blick auf verschiedene vergangene Zeitalter. Erhellende historische Fakten wechseln sich in loser Folge mit interessanten Details aus der Gutswirtschaft ab. Wunderschöne poetische Beschreibungen gelingen Dönhoff, wenn sie vom Rhythmus der Jahreszeiten schreibt.
Aber plötzlich das Führerhauptquartier in der Wolfsschanze, ganz nah. Das hatte ich in meiner naiven Vorstellung nie so weit im Osten angesiedelt. Da lagen einige Dinge nah. Näher, als Adolf Hitler dachte. Und doch hat dieser blöde Eichentisch gehalten. In Folge des missglückten Attentats wurden viele der geliebten Freunde hingerichtet. Marion Gräfin Döhhoff war nur am Rande beteiligt, wurde verhört, entging aber einer Verurteilung. Da die Autorin andernorts bereits ausführlich darüber geschrieben hat, wird dieser Erzählstrang hier nur gestreift. Aber er lenkt den Blick unerbittlich auf die Tatsache, dass die wunderbaren Schilderungen aus der Kindheit ein wehmütiger Blick zurück auf ein verlorenes Paradies sind. Denn Hitlers wahnsinniger Krieg hatte zur Folge, dass die Gräfin aus ihrer Heimat fliehen musste und Schloss Friedrichstein unwiederbringlich in Flammen aufging. Ihr Blick zurück geschieht in Trauer, aber nicht im Zorn, und wenn ich ihr Gänsehaut erzeugendes Schluss-Statement lese, ahne ich, warum meine Mutter so ein großer Fan dieser besonderen Frau war.
Leseempfehlung!