Rezension zu "Wenn Ridley am Tisch sitzt, dann denkt er nach" von Marion Schreiner
Und Ridley hat wirklich sehr viel nachzudenken. Wie jeder Mensch entwickelt auch er sich weiter. Nur, im Gegensatz zu manchen Menschen
bedenkt Ridley eine Vielzahl Dinge, erstellt komplexe Gedankenmodelle, die immer Rücksicht auf seine Ängste, Sorgen und sozialen Fähigkeiten
nehmen. Denn Ridley ist ein Autist.
Wo Nicht-Autisten mal eben zum Supermarkt fahren, hat er bereits im Vorfeld eine komplexe Berechnung durchgeführt, ob seine Kleidung die
richtige Farbe hat, der Rucksack genug Platz oder der Tagesablauf überhaupt Raum dafür bietet. Er stellt eine Hochrechnung an, was unterwegs alles passieren könnte, wem er begegnen würde und wie er dann auf was zu reagieren hätte. Autisten können selten spontan reagieren, denn ihnen fehlt die Fähigkeit, sich, andere und Situationen einzuschätzen. Daher tun sie alles, um auf jede Eventualität vorbereitet
zu sein. Dabei werden sie dennoch oft überrascht und nicht selten sind es genau diese Überraschungen, die Denkprozesse und damit Entwicklung bewirken.
Die Autorin Marion Schreiner hat hier eine Geschichte entwickelt, die ich im absolut positivsten Sinne als "Einmaleins" des Autismus
bezeichnen würde. Anhand der Figur Ridley erklärt sie mir jederzeit nachvollziehbar, wie ein Autist fühlt, denkt, welche Sorgen und Ängste
ihn plagen. Ganz nebenbei gibt sie durch Figuren, die Ridley helfen und ihn unterstützen, wichtige Hinweise an Nicht-Autisten für den Umgang mit Autisten. Die Geschichte öffnet die Tür in eine für viele fremde Welt, damit gegenseitiges Verständnis wachsen und gedeihen kann.
Oftmals war ich sehr berührt, habe gelacht oder war überrascht. Besonders gut gefällt mir der Entwicklungsprozess der Hauptfigur Ridley,
weil er so klar und nachvollziehbar dargestellt wird. Ich fand es zu keiner Zeit schwer, einer Entwicklung zu folgen oder sie zu verstehen.
Die Autorin hat mich beim Lesen mit allen nötigen Informationen versorgt. Dabei verzichtet sie bewusst nicht auf Wiederholungen und
demonstriert damit gleichzeitig, warum es für Autisten so wichtig ist, in wiederkehrenden Handlungen und Abläufen Sicherheit zu finden.
Ein besonders schwieriges Thema für viele Autisten ist die Liebe. Doch auch hier kann die Autorin Abhilfe leisten, nimmt mich behutsam an die
Hand und zeigt mir, wie es gehen kann. Dabei schreibt sie niemals rührselig, wahrt ausreichend Distanz, ohne etwas zu beschönigen.
Wenn Ridley am Tisch sitzt, dann denkt er nach. Für mich ist diese Geschichte eine pädagogisch wertvolle Brücke in eine oft verschlossene
Welt, die jeder Nicht-Autist gelesen haben sollte.