Rezension zu "Schwarzes Eis" von Mariusz Wilk
Ein sehr beeindruckendes Buch hat Mariusz Wilk mit "Schwarzes Eis" vorgelegt. Es ist vieles: Tagebuch, Reisebericht, kultur- und geistesgeschichtlicher Überblick, Analyse, Naturbeobachtung, philosophische Betrachtung. Gleich zu Beginn sei auf das Glossar hingewiesen, das weit mehr ist als ein einfaches Glossar und viel zum Verständnis beiträgt.
Wilk lebt seit Jahren auf den Solowjezki Inseln am Polarkreis und versucht durch den Blick auf diesen Mikro-Kosmos dem Leser nicht nur die Solowjezki Inseln sondern ganz Rußland etwas näher zu bringen. Denn hier findet sich wie in einem Brennglas gebündelt eigentlich alles wieder, was man auch im großen Land finden kann. Wunderbar versteht es Wilk unter den Menschen vor Ort zu leben und mit entsprechendem Verständnis und Anteilnahme für ihren harten Existenzkampf - dem er ja selber ebenso ausgesetzt ist - über sie zu schreiben, sich zugleich aber doch eine gewisse Objektivität zu bewahren. Intelligent und äußerst wach spürt er dem Land, der Natur, der Geschichte, Kultur und den Menschen dort nach, verfolgt die Spuren der Vergangenheit, geht die Wege und kämpft mit dem Problemen der Gegenwart und erahnt die Zukunft. Höchst beeindruckend, wie es ihm gelingt dem Leser zu vermitteln, welche tiefen Einflüsse selbst von einem so entlegenen, von den Menschen - wenn es geht - eher gemiedenen und scheinbar von Gott verlassenen Ort in das bekannte und zentralere Rußland ausgegangen sind und noch ausgehen. Welche Leistung die Menschen, die freiwillig oder weil der Staat sie dorthin verbannt hatte dort leben, gerade schriftstellerisch und geistig erbracht haben, wird mehr als deutlich. Er berichtet über Mönche, die auf diesen Inseln ausgeharrt und in Abgeschiedenheit große Werke (vor allem Chroniken) verfaßt haben, erklärt, was der wahre Russe unter echtem Fasten versteht, nimmt an Beerdigungen teil, beobachtet eine Wahl und die dabei selbst an diesem Flecken um sich greifende Korruption und Vetternwirtschaft, berichtet von obskuren Sekten, z.B. der "Sekte der weißen Tauben" die die Kastration von Frauen und Männern für den Weg zur wahren Erlösug hielt oder die Perduny, die Furzer, die lehrten, daß das, was wir essen, dem uns innewohnenden Teufel als Nahrung dient, weshalb als Form der Reinigung rituelles Furzen verbunden mit Gebeten empfohlen wurde. Und so geht es in einem fort.
Wer "Schwarzes Eis" gelesen hat, weiß danach mit Sicherheit eine Menge mehr über Rußland als vorher, erahnt welche Schätze in diesem Land verborgen sind aber auch welche Tragödien dort stattfinden und wie unerbittlich der Kampf ums Überleben für den einfachen Menschen ist. Er hat erfahren, wie man ein Netz richtig unter dem Eis hindurchzieht, wie es ist, mitten im Winter ein Grab auszuheben, daß auch die verzweifeltsten Menschen noch zu wahrer Dichtung imstande sind und daß der Mensch an sich, egal unter welchen Umständen versucht seinem Leben einen Sinn zu geben. Ja, es sind häufig anderswo aus verschiedenen Gründen Gescheiterte, aber Wilk zeigt, daß sie tagtäglich darum ringen ein Stück menschliche Würde zu bewahren und ich wage nach Lektüre dieses Buches zu sagen, daß es ihnen gelingt, vielleicht sogar überzeugender als manchem, der unter wesentlich besseren äußeren Bedingungen sein Leben lebt.
Am Ende des Buches, stellt man fest, daß sich die darin beschriebenen Menschen, die dort auf den Inseln ihr Leben fristen - und manchmal auch feiern - still und leise in das Herz des Lesers gestohlen haben. Wer Rußland liebt oder gerne mehr über Rußland wissen möchte, wer verstehen möchte, was die Menschen dort bewegt oder lähmt, wer wunderbare Beschreibungen der nordischen Natur lesen möchte, dem sei dieses Buch wärmstens ans Herz gelegt.