Rezension zu "Nereng gomez - Der Urin des Ochsen" von Marlene Pfaffenzeller
Die Geschichte einer jungen Frau auf der Flucht, wie sie eindringlicher und bedrohlicher nicht hätte sein können.
Violeta lebt in Cartagena de Indias, Kolumbien, zusammen mit dem Afrokolumbianer Antonio und seiner Tochter Anita. Früher wurden hier die in Afrika geraubten Sklaven, die die Überfahrt überlebt hatten, zum Verkauf angeboten. Im wahrsten Sinne des Wortes ein sehr geschichtsträchtiger Ort.
Violeta scheint an diesem Ort angekommen zu sein, Frieden gefunden zu haben und mit der Vergangenheit leben zu können. Die Autorin lässt sie ihre Geschichte erzählen.
Violeta war nicht immer Violeta. Eigentlich hieß sie Anahita und lebte in Georgien, mit ihren Eltern und ihrem Bruder Georgi. Mit neun Jahren konnte sie es kaum verstehen, dass ihre Eltern eine Flucht planten. In der Zeit, wo Georgien die Unabhängigkeit von der Sowjetunion erlangt hatte, wurden die Zugehörigen der Religion ihrer Eltern brutal verfolgt. Die Ausreise der Familie endete in Deutschland, wo sie Asyl beantragte. Dann der Kulturschock, die Strapazen des Alltags, die Fremdenfeindlichkeit, die Bürokratie....Ein Verfahren, wo kein Ende in Sicht war. Eine kleine Ordnungswidrigkeit führte dazu, dass die Familie in Abschiebehaft kam und nach Georgien zurückmusste. Das armselige Leben bei der Großmutter, die Krankheit der Mutter und die Abwesenheit des Vaters veranlasste die fast erwachsene Anahita, sich erneut auf den Weg zu machen und sich gemeinsam mit ihrem Bruder Schleppern anzuvertrauen. Georgi ging auf der Flucht verloren. Mit schweren Schuldgefühlen beladen gelangte Anahita nach Deutschland. Einen Aufenthaltsstatus hatte sie nicht. Als sogenannte Illegale musste sie ein Leben im Verborgenen führen. Trotz Bindung zu anderen Menschen war sie ausgeschlossen vom gesellschaftlichen Leben... Existenzängste, Verzweiflung, Schuldgefühle und Einsamkeit raubten ihr jegliches Selbstbewusstsein und die Hoffnung auf ein besseres Leben und entließen sie in eine Schockstarre, in Handlungsunfähigkeit und weitere schwere Schicksalsschläge.
Langsam wendete sich das Blatt. Mitfühlende Menschen an ihrer Seite entwickelten mit ihr vorläufige Lösungen. So wurde Spanien ihr nächster Aufenthalt. Sicherheit fand sie erst in der Obhut und dem Haus der Mutter eines Freundes in Kolumbien, nachdem sie bereits zu Violeta geworden war. In Kolumbien wurden Pässe nicht zurückverfolgt.
Fast verlor sie wieder den Boden unter ihren Füßen , als ihre Wohltäterin starb. Aber das Schicksal und zunehmendes Vertrauen zu sich selbst verband sie mit Antonio und seiner kleinen Tochter und schuf den Dreien eine neue Lebensperspektive, an einem Platz, wo die Vergangenheit und das Leiden, Heilung und die Schönheit des Lebens zusammentrafen und in Balance standen.
Es handelt sich hier um einen großartig angelegten, sensiblen und gleichzeitig mitreißenden Roman, in dem es nicht allein um die Stationen einer Flucht geht, sondern um den inneren Zustand einer jungen Frau in Extremsituationen, bei der sich die reine Überlebenstrategie zu einer Suche nach einem Ort , wo man hingehört, entwickelt, und nach der eigenen Identität , um die eigene Lebensfähigkeit in seiner Ganzheit zu stärken. Letztendlich ist das Zuhause dort, wo das Herz schlägt.