Marta Barone

 3,6 Sterne bei 5 Bewertungen

Lebenslauf

Marta Barone wurde 1987 in Turin geboren. Sie ist Übersetzerin und freiberufliche Lektorin. Ihr Romandebüt, das in sieben Sprachen übersetzt wurde, stand auf der Shortlist des Premio Strega und wurde mit dem Premio Letterario Nazionale Elio Vittorini und dem Premio Fiesole ausgezeichnet. Barone ist auch Autorin mehrerer Kinderbücher.

Quelle: Verlag / vlb

Alle Bücher von Marta Barone

Neue Rezensionen zu Marta Barone

Aufarbeitung einer komplizierten Vater-Tochter-Beziehung

Erst kürzlich ist Marta Barones Vater Leonardo an Krebs verstorben. Zu Lebzeiten war das Vater-Tochter-Verhältnis kompliziert, distanziert und kühl und nun, beim Aufräumen des Nachlasses entdeckt ihre Mutter die Gerichtsakten zu einem viele Jahre zurückliegenden Prozess um eine vermeintliche Mitgliedschaft zu der terroristischen Vereinigung „Prima Linea“. 

Mit „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ begibt sich die Autorin in Autofiktion auf Spurensuchen nach ihrem Vater, einem vielschichtigen und komplizierten Mann, der in den 1980ger Jahre ungewollt in die Fänge der Polizei gelangt, weil ihm eine Zugehörigkeit zur Terrorgruppe Prima Linea vorgeworfen wird. Die schwerwiegende Anschuldigung geht an Leonardo nicht spurlos vorbei und verändert ihn sehr. Es ist Leonardos erste Frau, die ihr von ihrem Vater erzählt, wie er vorher und wie er nachher (nach dem Prozess) war, denn Marta kennt nur den Mann „danach“. Sie will, dass Marta die Kluft versteht, die ihren Vater zu einem anderen Menschen hat werden lassen.

Mehr als alle anderen führte der Vorfall in der Via Artisti mir die gewaltige Kluft vor Augen, die den Mann, den ich zu kennen geglaubt hatte, von dem trennte, der tatsächlich in ihm gesteckt haben musste; die Distanz zwischen der Wasseroberfläche und den unsichtbaren, unerreichbaren Dächern von Kitesch.

Zu Lebzeiten bleibt Leonardo Barone für die Autorin ein Fremder. Dieser Roman ist ihr Versuch, ihren Vater im Nachhinein kennenzulernen und daraus geworden ist eine posthume Versöhnung.

Wir hatten, wie man sagt, ein schwieriges Verhältnis.

Meine persönlichen Leseeindrücke 

„Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ ist eine echte Überraschung! Marta Barone führt mit ihrer mitreißenden Erzählweise durch das Turin der 70ger und 80ger Jahre, beleuchtet die damalige politischen Szene und dringt dabei immer weiter in die gesellschaftliche Not der Turiner Fabrikarbeiter ein. Ihre Familiengeschichte ist damit unzertrennlich verbunden.

Leonardo Barone gehört der kommunistischen Partei „Servire il popolo“ an. Tatkräftig arbeitet er am Aufbau der Partei, richtet sein Handeln nach den Ideen der Partei aus, die ein wichtiger Bestandteil seines Lebens sind und widmet viele Jahre dem Aufschwung der politischen Bewegung. Umso absurder erscheint der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, dass er ein Sympathisant der Terrorgruppe Prima Linea sei. Der Prozess verändert nicht nur ihn, sondern auch seine Mitstreiter. Sein Leben gerät aus den Fugen, er, ein hochintelligenter Mann, verirrt sich in einem Konstrukt aus Ideen und Menschen. Mit dem Ende der Partei wird ihm gleichzeitig sein eigenes Versagen bewusst. 

Und er schluchzte: „Ich habe mein Leben vertan. Mein ganzes Leben habe ich vertan.“

Es gibt ziemlich viele Stränge, die zusammenlaufen. Da ist einmal der Strang der historischen Dokumentation: die Archivdokumente, die Prozessausschnitte, die Zeitungsartikel. Dazu kommen die vielen unterschiedlichen Erzählungen der Romanfiguren, die nach und nach ihren Auftritt haben, die z. T. auch von der Autorin aufgesucht und interviewt wurden. 

Ganz eindeutig hatte L.B. (Anm. Leonardo Barone) etwas Außergewöhnliches an sich, etwas Magisches, von dem mir alle erzählen, mit denen ich sprach, das aber niemand definieren konnte, jedenfalls war es nicht nur Großzügigkeit, Charisma oder Leidenschaft; es war eine Art purpurnes Feuer, ein rätselhaftes Leuchten, das allein aus ihm kam und jeden sofort für ihn einnahm.

Dann gibt es die Reflektionen der Autorin, die mal in die Rolle der Erzählerin, mal in die Rolle der Romanfigur schlüpft, und über die Geschehnisse und schlussendlich ihre Überlegungen zu ihrem abwesenden Vater niederschreibt. Es ist ihr spätes Liebesbekenntnis an ihn. 

Der Versuch, das Leben meines Vaters zu rekonstruieren, hatte mich gezwungen, in die Vergangenheit zurückzublicken und mir Dinge in Erinnerung zu rufen, an die ich mich bestens zu erinnern geglaubt hatte, und Dinge, die aus meinem Gedächtnis gelöscht waren; ich war gezwungen gewesen, meine eigene Vergangenheit zu untersuchen, die ich für vollständig und eindeutig präsent gehalten hatte.

Das alles mag verwirrend und kompliziert klingen, ist es aber nicht, denn Marta Barone erzählt so fesselnd und leidenschaftlich, dass die komplexen Sachverhalte, die vielen Romanfiguren und die sich schnell wechselnden Zeitebenen leicht und klar verständlich wirken. Ich lese das Buch zügig und aufgeregt, es ist ein richtiger Pageturner, hinter der sich eine beunruhigend aktuelle politische und gesellschaftliche Kritik geschickt versteckt.

Besonders hervorheben möchte ich die wahrhaft meisterliche Übersetzung von Jan Schönherr. Ihm ist es zu verdanken, dass die Erzählkraft auch in der deutschen Sprache bewahrt wird.

Fazit

Marta Barones Romandebüt "Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand" ist das Ergebnis der Aufarbeitung einer komplizierten Vater-Tochter-Beziehung und gleichzeitig ein posthumes Liebensbekenntnis. Mit dem Leben des Vaters ist unzertrennlich die italienische politische Zeitgeschichte der 1970ger und 1980ger Jahre verbunden. 

Marta Barone "Wie mein Vater in den Straßen von Turin verschwand"

"So absurd das klingen mag, es war, als bräuchte ich einen Beweis, dass mein Vater wirklich existiert hatte; dass seine Jugend wirklich stattgefunden hatte; dass er irgendwo vor langer Zeit etwas getan hatte, und sei es noch so trivial, etwas, von dem noch eine Spur geblieben war und das noch irgendwie mit mir zu tun hatte."

Als Marta Barone 24 ist, stirbt ihr Vater an einem Leberkarzinom. Das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Vater war sehr ambivalent und schwierig, und die letzten 20 Jahre, die sie getrennt voneinander gelebt haben, haben sie sich über unterschiedlich lange Zeiträume kaum gesprochen oder gesehen. Barone empfand ihren Vater schon immer als widersprüchlich.

"Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand" ist Marta Barones Versuch, ihren Vater zu verstehen und besser kennenzulernen. Und auch der Versuch, die eigene Geschichte zu finden.

Kitesch ist eine legendäre russische Stadt, die im See versunken ist, um sich und ihre Bewohner vor den angreifenden Tataren in Sicherheit zu bringen. In der Legende heißt es auch, dass nur Menschen reinen Herzens den Weg zur Stadt finden können, deren Umrisse weiß und golden unter der Oberfläche schimmern. Ich habe eine ganze Weile darauf herumgedacht, warum das erste Kapitel von Barones Buch ausgerechnet "Kitesch" heißt und bin zu dem Schluss gekommen, dass diese Stadt Barones Vater in gewisser Weise widerspiegelt. So wie die Stadt verschwommen und geheimnisvoll unter der Wasseroberfläche ruht, ist auch ihr Vater ein geheimnisvoller Geist, ein Buch mit sieben Siegeln. Doch mit diesem Roman und den Recherchen dazu, nähert sich Barone mehr und mehr ihrem Vater und seinen Geheimnissen an. Und auch wir werden durch die Geschichte von Leonardo Barone Zeitzeugen. Zeugen einer politisch sehr aufwühlenden Zeit Italiens der 70er und 80er Jahre.

Ich kann euch gar nicht genau sagen warum mich dieses Buch so gefesselt hat und wieso es solch einen Sog entwickelt hat. Denn letztlich ist es "einfach nur" die Geschichte einer jungen Frau, die ihren Vater verstehen und ihn besser kennenlernen möchte und die uns auf diesem Weg mitnimmt. Es ist aber auch die eines Mannes, der in politisch unruhigen Zeiten seinen Weg geht. Vielleicht liegt es an Barones sehr einfühlsamen Schreibstil, der mit einem leicht traurigen Grundton daherkommt und mir dadurch eine gewisse Nähe zu ihr vermittelt. Was auch immer letztendlich der Grund dafür ist, ich hatte eine wirklich schöne Zeit mit diesem Buch und Barones Familiengeschichte und bleibe am Ende mit einem warmen Gefühl zurück.

Fazit: Das Buch ist vielleicht nicht für jeden etwas, aber wer sich darauf einlassen kann, die Autorin auf der Suche nach ihrem Vater und dem widersprüchlichen Mann dahinter zu begleiten, wird mit einer wirklich tollen Geschichte belohnt.

Übersetzt aus dem Italienischen von Jan Schönherr.

Gespräche aus der Community

Bisher gibt es noch keine Gespräche aus der Community zum Buch. Starte mit "Neu" die erste Leserunde, Buchverlosung oder das erste Thema.

Community-Statistik

in 5 Bibliotheken

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks