Erst kürzlich ist Marta Barones Vater Leonardo an Krebs verstorben. Zu Lebzeiten war das Vater-Tochter-Verhältnis kompliziert, distanziert und kühl und nun, beim Aufräumen des Nachlasses entdeckt ihre Mutter die Gerichtsakten zu einem viele Jahre zurückliegenden Prozess um eine vermeintliche Mitgliedschaft zu der terroristischen Vereinigung „Prima Linea“.
Mit „Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ begibt sich die Autorin in Autofiktion auf Spurensuchen nach ihrem Vater, einem vielschichtigen und komplizierten Mann, der in den 1980ger Jahre ungewollt in die Fänge der Polizei gelangt, weil ihm eine Zugehörigkeit zur Terrorgruppe Prima Linea vorgeworfen wird. Die schwerwiegende Anschuldigung geht an Leonardo nicht spurlos vorbei und verändert ihn sehr. Es ist Leonardos erste Frau, die ihr von ihrem Vater erzählt, wie er vorher und wie er nachher (nach dem Prozess) war, denn Marta kennt nur den Mann „danach“. Sie will, dass Marta die Kluft versteht, die ihren Vater zu einem anderen Menschen hat werden lassen.
Mehr als alle anderen führte der Vorfall in der Via Artisti mir die gewaltige Kluft vor Augen, die den Mann, den ich zu kennen geglaubt hatte, von dem trennte, der tatsächlich in ihm gesteckt haben musste; die Distanz zwischen der Wasseroberfläche und den unsichtbaren, unerreichbaren Dächern von Kitesch.
Zu Lebzeiten bleibt Leonardo Barone für die Autorin ein Fremder. Dieser Roman ist ihr Versuch, ihren Vater im Nachhinein kennenzulernen und daraus geworden ist eine posthume Versöhnung.
Wir hatten, wie man sagt, ein schwieriges Verhältnis.
Meine persönlichen Leseeindrücke
„Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand“ ist eine echte Überraschung! Marta Barone führt mit ihrer mitreißenden Erzählweise durch das Turin der 70ger und 80ger Jahre, beleuchtet die damalige politischen Szene und dringt dabei immer weiter in die gesellschaftliche Not der Turiner Fabrikarbeiter ein. Ihre Familiengeschichte ist damit unzertrennlich verbunden.
Leonardo Barone gehört der kommunistischen Partei „Servire il popolo“ an. Tatkräftig arbeitet er am Aufbau der Partei, richtet sein Handeln nach den Ideen der Partei aus, die ein wichtiger Bestandteil seines Lebens sind und widmet viele Jahre dem Aufschwung der politischen Bewegung. Umso absurder erscheint der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, dass er ein Sympathisant der Terrorgruppe Prima Linea sei. Der Prozess verändert nicht nur ihn, sondern auch seine Mitstreiter. Sein Leben gerät aus den Fugen, er, ein hochintelligenter Mann, verirrt sich in einem Konstrukt aus Ideen und Menschen. Mit dem Ende der Partei wird ihm gleichzeitig sein eigenes Versagen bewusst.
Und er schluchzte: „Ich habe mein Leben vertan. Mein ganzes Leben habe ich vertan.“
Es gibt ziemlich viele Stränge, die zusammenlaufen. Da ist einmal der Strang der historischen Dokumentation: die Archivdokumente, die Prozessausschnitte, die Zeitungsartikel. Dazu kommen die vielen unterschiedlichen Erzählungen der Romanfiguren, die nach und nach ihren Auftritt haben, die z. T. auch von der Autorin aufgesucht und interviewt wurden.
Ganz eindeutig hatte L.B. (Anm. Leonardo Barone) etwas Außergewöhnliches an sich, etwas Magisches, von dem mir alle erzählen, mit denen ich sprach, das aber niemand definieren konnte, jedenfalls war es nicht nur Großzügigkeit, Charisma oder Leidenschaft; es war eine Art purpurnes Feuer, ein rätselhaftes Leuchten, das allein aus ihm kam und jeden sofort für ihn einnahm.
Dann gibt es die Reflektionen der Autorin, die mal in die Rolle der Erzählerin, mal in die Rolle der Romanfigur schlüpft, und über die Geschehnisse und schlussendlich ihre Überlegungen zu ihrem abwesenden Vater niederschreibt. Es ist ihr spätes Liebesbekenntnis an ihn.
Der Versuch, das Leben meines Vaters zu rekonstruieren, hatte mich gezwungen, in die Vergangenheit zurückzublicken und mir Dinge in Erinnerung zu rufen, an die ich mich bestens zu erinnern geglaubt hatte, und Dinge, die aus meinem Gedächtnis gelöscht waren; ich war gezwungen gewesen, meine eigene Vergangenheit zu untersuchen, die ich für vollständig und eindeutig präsent gehalten hatte.
Das alles mag verwirrend und kompliziert klingen, ist es aber nicht, denn Marta Barone erzählt so fesselnd und leidenschaftlich, dass die komplexen Sachverhalte, die vielen Romanfiguren und die sich schnell wechselnden Zeitebenen leicht und klar verständlich wirken. Ich lese das Buch zügig und aufgeregt, es ist ein richtiger Pageturner, hinter der sich eine beunruhigend aktuelle politische und gesellschaftliche Kritik geschickt versteckt.
Besonders hervorheben möchte ich die wahrhaft meisterliche Übersetzung von Jan Schönherr. Ihm ist es zu verdanken, dass die Erzählkraft auch in der deutschen Sprache bewahrt wird.
Fazit
Marta Barones Romandebüt "Als mein Vater in den Straßen von Turin verschwand" ist das Ergebnis der Aufarbeitung einer komplizierten Vater-Tochter-Beziehung und gleichzeitig ein posthumes Liebensbekenntnis. Mit dem Leben des Vaters ist unzertrennlich die italienische politische Zeitgeschichte der 1970ger und 1980ger Jahre verbunden.