Rezension zu "Türkei hören" von Martin Greve
Ein Land wie ein Museum
Türkei - die meisten von uns kennen dieses Land nur aus dem Urlaub, sind fasziniert von der fremdartig anmutenden Kultur. Man hat vielleicht schon einmal etwas von den Janitscharen gehört, den wirbelnden Derwischen (Angehörige der muslimischen asketisch-religiösen Ordensgemeinschaft der Sufis) beim Tanzen zugeschaut oder in jüngster Zeit die Werke der modernen Schriftsteller - prominentestes Beispiel Nobelpreisträger Orhan Pamuk - gelesen. Aber dieses Land offeriert eine noch vielfältigere Kulturgeschichte, die von unglaublich vielen Einflüssen geprägt ist.
Der kleine Silberfuchs Verlag aus Kayhude, vor den Toren Hamburgs, der mit seiner Länderreihe (zu Recht) hoch gelobt wird, bietet erneut einen rundum gelungenen geschichtlichen und kulturellen "Abriss" einer Nation auf einer CD. Natürlich können 80 Minuten kein tiefgründiges und komplexes Wissen vermitteln, worauf die Macher um Antje Hinz und Autor und Türkei-Spezialist Martin Greve auch gar keinen Anspruch erheben, aber dieses kompakte Exposé mit schlaglichtartig gesetzten Akzenten in den Bereichen türkische Mythen, Kunst, Literatur, Architektur, Theater und Film sowie seine wundervolle Verknüpfung mit über fünfzig Klangbeispielen der türkischen Musikkultur, hat Stil und Inhalt. "Türkei hören" ermöglicht Einblicke in eine Nation jenseits der gängigen Klischees.
Erneut zeichnet sich neben der (wie immer) aufwendig und sorgfältig produzierten und künstlerisch gestalteten CD auch das opulente 24seitige Booklet aus.
Zwei große Meilensteine prägen die Geschichte und Kultur der Türkei entscheidend: das Osmanische Reich und der Begründer der modernen Türkei, Atatürk. Doch mittendrin, davor und danach gibt es noch jede Menge leiser Zwischentöne zu entdecken.
Von der Wölfin Asena über die Seldschuken zu den Osmanen
Ganz früh setzt das Hörbuch ein, mit der bedeutendsten Legende der Türken und der anderen Turkvölker, die bereits in der chinesischen Literatur um 300 v. Chr. Erwähnung findet - der Mythos um die Wölfin Asena, die einen kleinen Jungen - einziger Überlebender seines Volkes, das einem Massaker zum Opfer viel - rettet und aufzieht. Als einzige Trägerin des türkischen Erbgutes geht sie mit dem heranwachsenden Knaben eine geschlechtliche Verbindung ein, aus der zehn Söhne hervorgehen: die zukünftigen Herrscher der Türken, das Asena-Adelsgeschlecht.
Noch heute ist der Wolf ein pantürkisches Symbol und wird in der Türkei als heiliges Totemtier und Ahne verehrt.
Nun kann die Reise beginnen. Von der ersten Besiedlung Zentralasiens durch Wanderhirten, der Entstehung der noch heute vorherrschenden Religion - dem Islam - und der Etablierung der arabischen Schrift durch die Verbreitung des Korans.
"Immer weiter nach Westen gelangten muslimische Türken unter der Führung der Seldschuken. Nun bereits getrieben von einer neuen Macht hinter sich - den Mongolen.", intoniert der deutsch-türkische Schauspieler Ercan Durmaz mit seinem ruhigen und sanft-einfühlsamen Timbre, der dem Hörbuch seine ganz eigene, wohltuend zurückhaltende Stimme und vor allem große Authentizität gibt.
Im 11. Jahrhundert erreichten die Seldschuken das heutige Anatolien, einen der ältesten Kulturräume der Welt. Sie lassen, hier sesshaft geworden, eine Kultur mit vielfältigen Einflüssen entstehen - altanatolische, griechisch-römische, türkisch-zentralasiatische und persisch-islamische, bevor sie 1453 mit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen und ihrer Herrschaft in der folgenden Zeit einen weiteren Höhepunkt erfährt.
Kulturpolitische Kehrtwende
Aber auch abendländische Einflüsse finden ihren Weg ins Morgenland. Sultan Süleyman der Prächtige fand sogar Gefallen an französischer Musik. Doch erst im 19. Jahrhundert fingen die Türken selbst an, westliche Musik auszuüben. Den Weg zu dieser kulturpolitischen Kehrtwende hat Sultan Abdülmecid I. geebnet, der von 1839 bis 1861 regierte. Er förderte neben der orientalischen Musik gleichzeitig auch die europäische, ja er spielte gar selbst Klavier.
Die entscheidende Kehrwende fand aber erst nach dem Fall des osmanischen Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den Reformen Kemal Atatürks statt, der das Land zunehmend zu europäisierend begann, auch wenn die Umsetzung nicht in vollem Maße gelang.
Vielleicht wird die Diskussion, die Türkei als Vollmitglied in die EU aufzunehmen und ob die Türken überhaupt als Europäer anzusehen seien, nach dieser CD in gemäßigtere Bahnen gelenkt. Denn ein Blick in die Kulturgeschichte zeigt, dass die Europäisierung des Landes am Bosporus schon lange vor Kemal Atatürk begonnen hat.
Fazit:
Abgesehen von der schillernden Metropole Istanbul, haben wir bestenfalls ein lückenhaftes Bild vom Land am Bosporus. "Türkei hören" vermag mit seinem informativen, lehrreichen und vor allem unterhaltsamen Inhalt zumindest einige dieser Fehlstellen gekonnt zu schließen.