Rezension zu "Afrika First!" von Martin Schoeller
Selten habe ich ein Sachbuch so neugierig aufgeschlagen – und so gefesselt bis zur letzten Seite durchgelesen. Noch nie habe ich es einem anderen zum Mitlesen gegeben, ehe meine Rezension fertig war. Fünf Gründe, warum Sie es mir nachtun sollten.
1. Aha-Erlebnis: Ein wirtschafts- und sozialpolitischer Aufsatz kann spannend geschrieben, mit Zahlen verständlich illustriert und mit Verve und Empathie vorgetragen sein. Schoeller und Schönwitz sprechen als Unternehmer und Wirtschaftsjournalist aus eigener Expertise. Ihr Buch zu lesen ist ein Vergnügen, auch für Nichtökonomen.
2. Das gilt nicht für die dargestellten Fakten. Falls der Titel Sie provoziert hat – die Realitäten sind die eigentliche Provokation und absolut lesenswert. Was wir nicht wissen oder oft ausblenden, legen Schoeller und Schönwitz Detail für Detail dar: die Lage auf dem afrikanischen Kontinent anhand von Wirtschafts- und Sozialdaten, Zusammenhänge mit innereuropäischer Wirtschaftspolitik, chinesische Investitionen und ihre Wirkungen. Aber auch andere Fakten können provozieren, im positiven Sinne: nämlich die Daten jüngerer Entwicklungen in einigen afrikanischen Ländern, die Hoffnung machen, und deren Grundlagen – die es auszuweiten und zu verstetigen gilt. Das ist eine Herausforderung, die uns betrifft.
3. Schoeller und Schönwitz räumen nicht nur im Anhang mit klassischen Vor- und Pauschalurteilen über Afrika und Entwicklungs(zusammen)arbeit auf, sie machen insgesamt deutlich, dass wir uns allzu lange auf falsche Sicherheiten und Dogmen verlassen haben: Der „freie Markt“ hat Afrika nicht von Armut befreit. „Fairer Handel“ und Entwicklungshilfe alter Schule konnten den Hunger nicht besiegen. Freiwilligkeit, sagt der Unternehmer Schoeller, genügt nicht für die Umsetzung effektiver Standards. (Das gilt sicher für Reformen in Deutschland wie in afrikanischen Staaten.) Für echten Fortschritt der afrikanischen Ökonomien braucht es einen anderen Ansatz, den die Autoren en detail darlegen. Die Soziale Marktwirtschaft, soziale Sicherungssysteme und Governance-Maßnahmen spielen dabei eine Schlüsselrolle; und ihre Wirkungen werden bis nach Europa und weltweit spürbar sein. Nicht nur negative Entwicklungen (wie Fluchtbewegungen) lassen sich so bekämpfen, sondern auch positive Perspektiven aufbauen: Zusammen mit Afrika könnte Europa neue globale Spielregeln der Zusammenarbeit prägen, statt das Diktat der Bedingungen anderen Wirtschaftsgroßmächten wie China und den USA zu überlassen.
4. Die Beispiele Nachkriegsdeutschlands und Ostasiens zeigen, dass die Vision der Autoren keine Utopie ist. Nicht nur die aktuelle Lage, auch ihre Infrastruktur-Initiative haben Schoeller und Schönwitz durchgerechnet. Ihr Buch macht Mut, weil es sachlich, ökonomisch fundiert und ethisch engagiert ist. Ein Weg aus der Krise, selbst aus einer so historisch verflochtenen und lang anhaltenden, ist möglich – und er kostet vor allem ein Umdenken. „Afrika first“ bedeutet: Alle profitieren (mit).
5. Das Buch ist auch deswegen wohltuend und mutmachend, weil es ohne ideologische Grabenkämpfe auskommt und mit höchstem Pragmatismus auf das schaut, was zu tun ist. Armutsbekämpfung ist hier kein rein karitativer Zweck, sondern eine nicht diskutierbare Zielbestimmung und zugleich Kennzeichen einer gesunden Wirtschaft. Menschen müssen das, was sie produzieren, sich auch selbst leisten können – dieser Ford‘sche Grundsatz, in anderen Worten auch von Bosch überliefert, gilt für die nördliche Hemisphäre, wie er für Produzenten in Afrika gelten muss.
Exzellent und herrlich unideologisch geschrieben, ist „Afrika First“ eine Pflichtlektüre für alle, die wirtschaftlich, sozial, (geo)politisch interessiert, unternehmerisch tätig oder politisch verantwortlich sind. Auch einige Schwächen tun dem keinen Abbruch: So ist der Blick des Buchs auf den europäischen Status der Menschenrechte – speziell in Hinsicht auf geflüchtete und andere Immigranten, für die unter Umständen nicht Staatsbürger-, aber doch die Menschenrechte gelten – nicht so scharf wie der auf die Entwicklungen in Afrika. Dort wiederum sind der Schlüsselaspekt Bildungsinfrastruktur und die zentrale Rolle der Frauen auch für die Volkswirtschaften aus meiner Sicht zu sehr nur am Rande berührt.
Zugleich erstaunt, gerade im Kontext des viel benutzen Stichworts von der „Augenhöhe“, dass unter den Gruß- und Geleitworten kein afrikanischer Wirtschafts- oder Politikexperte zu Wort kommt und selbst in den Danksagungen nur ein einziger Impulsgeber aus Afrika namentlich erwähnt wird. Das fehlende afrikanische Barometer bzw. die mangelnde Sichtbarkeit solcher Partner ist eine schmerzhafte Lücke, umso mehr, als die Autoren Neokolonialismus und Rassismus ansprechen und ablehnen.
Dieses Manko wiegt schwer in einem sehr umkämpften Feld. Besonders für ein Buch, das ansonsten gerade deshalb so erfrischend zu lesen ist, weil es – bei klarer Analyse des aktuellen Zustands und seiner historischen Hintergründe – sich nicht an der Vergangenheit verkämpft, sondern eine Agenda für die Zukunft entwirft. Eine Agenda, die faktenbasiert, realistisch und zugleich von großen Zielen, hohen ethischen Maßstäben und Leidenschaft für die Menschen getragen ist.
Mit Dank an meinen senegalesisch- deutschen Mitleser, Cheikh Touré.