Cover des Buches Ein liebender Mann (ISBN: 9783499255618)
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Rezension zu Ein liebender Mann von Martin Walser

Alter schützt vor Torheit nicht …

von Herbstrose vor 9 Jahren

Rezension

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Herbstrosevor 9 Jahren

Juli 1823. Der knapp 74jährige Johann Wolfgang von Goethe weilt, wie auch in den vergangenen Jahren, zur Sommerfrische in Marienbad. Auch Frau von Levetzow mit ihren drei Töchtern ist wieder angereist. Die Älteste, Ulrike, ist nunmehr 19 Jahre alt und zu einer jungen Frau heran gereift. Das entgeht auch Goethe nicht, der alternde Greis entflammt in Liebe zur 55 Jahre jüngeren Ulrike. Auch Ulrike scheint zunächst nicht abgeneigt, man sieht die beiden täglich zusammen auf der Kurpromenade, in lebhafte Gespräche und Diskussionen vertieft. Sie ist von Goethes Persönlichkeit und Berühmtheit hingerissen und sonnt sich in seiner Bewunderung. Doch als Goethe über seinen Freund, den Großherzog Carl August, um Ulrikes Hand anhalten lässt, reist die Familie am nächsten Tag ab …

In seinem teils biografischen Roman „Ein liebender Mann“ gelingt es Martin Walser großartig, sich in die Gefühle des alternden Goethe hinein zu versetzen und diese zu Papier zu bringen. Man spürt als Leser Goethes Besessenheit, seine widersprüchlichen Gedanken, sein Bestreben das Mädchen sein Eigen zu nennen, seine Angst abgewiesen zu werden und auch die Verzweiflung über sein Alter, als er nach einem Sturz nicht mehr ohne Ulrikes Hilfe hoch kommt, oder wenn er vor ihr auf die Knie sinken will aber weiß, dass das Aufstehen misslingen könnte. „Meine Liebe weiß nicht, dass ich über 70 bin“, lässt Walser Goethe sagen, doch er selbst weiß es wohl. Aber es gelingt ihm erfolgreich, die mahnenden Gedanken zu verdrängen. Er betrachtet sich im Spiegel und glaubt, darin einen immer noch gut erhaltenen, attraktiven Mann zu sehen.

Walser gliedert den Roman in drei Teile. Im ersten Teil sind die Tage in Marienbad heiter und beschwingt, mit langen Spaziergängen und vergnüglichen Gesprächen zwischen Goethe und Ulrike, Landpartien und diversen Zerstreuungen, Dinner-Einladungen, prunkvollen Bällen und einem ersten flüchtigen Kuss. Nach dem missglückten Antrag und Abreise der Levetzows wird im zweiten Teil die Stimmung wesentlich düsterer. Liebeskummer macht sich in Goethe breit und eine brennende Eifersucht auf den jungen Schmuckhändler de Ror, der ebenfalls um Ulrikes Gunst buhlt. In der Kutsche zurück nach Weimar entsteht auch die „Marienbader Elegie“, eines der schönsten und intimsten Gedichte Goethes, welches im Buch in ganzer Länge zu lesen ist. Der dritte Teil besteht überwiegend aus einem (fiktiven) Briefwechsel. Heimlich, ohne Wissen seiner Familie, schreibt Goethe an Ulrike. Das verzweifelte Warten auf Antwort zermürbt ihn so sehr, dass er sich schließlich aufs Krankenlager begeben muss. Nur langsam und ganz allmählich kommt er zu der Erkenntnis, dass er sich von dem Gedanken einer Verbindung mit Ulrike lösen muss. Dass ihm dies wohl nicht gelungen ist, erfährt der Leser am Schluss des Romans.

Vielleicht liegt es daran, dass ich nie ein Fan von Goethe war oder daran, dass ich eine Frau bin, dem Thema des Buches konnte ich nichts abgewinnen. Es ist ohne Zweifel gut geschrieben mit geistreichen Gedanken und amüsanten Dialogen, auch wenn sich zwischendurch einige Längen breit machen. Ich ertappte mich dabei, dass ich gelegentlich so etwas wie Häme oder Schadenfreude empfand, wenn Goethe wieder einmal in Selbstmitleid zerfließt. Goethe-Liebhaber werden sicher ihr Idol anders wahrnehmen.

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