Cover des Buches Ein liebender Mann (ISBN: 9783499255618)
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Rezension zu Ein liebender Mann von Martin Walser

Die Leiden des alten Werther

von Kopf-Kino vor 8 Jahren

Kurzmeinung: Die Leiden des alten Werthers mit versteckten Goethe-Zitaten - meisterhaft erzählt!

Rezension

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Kopf-Kinovor 8 Jahren

Meine Liebe weiß nicht, dass ich über siebzig bin. Ich weiß es auch nicht.

Marienbad, 1821: Während eines Kuraufenthalts sucht Altmeister Goethe nach Ablenkung - sowohl vom tristen Alltag als auch von der Einsamkeit - und trifft dabei unverhofft auf die siebzehnjährige Ulrike von Levetzow, zu der ihm eine ungeahnte Leidenschaft entbrennt. Sie sollte Goethes letzte Liebe sein.

Er spürte, in allem, was nicht mit ihr zu tun hatte, eine böse Sinnlosigkeit und Langeweile. Es tat immer weh, sich von ihr abzulenken. Aber dass, bis er sie wieder sah, höchstens Stunden vergehen mussten, machte alle Entbehrungen leicht.

Martin Walser ist meiner Meinung nach ein wunderschöner und keinesfalls kitschiger Roman gelungen, der liebes-, erfahrungsreich und literarisch anmutig daherkommt. Der Autor verleiht dem schwärmerischen Goethe eine wahre Bilder- und Übertreibungsfülle in dessen blinde Verliebtheit, die jedoch an keiner Stelle ins Peinliche zu rutschen droht.

Dieser Roman greift viele Thematiken auf und verwebt sie geschickt miteinander. Allem voran steht der Altersunterschied: 55 Jahre, mehr als ein halbes Leben trennt die zwei Hauptfiguren. Viel wurde über dieses Verhältnis spekuliert – gefühlt ganz Deutschland sprach darüber -, und zum Glück entschied sich Walser dazu, einfach zu erzählen – über die Liebe und ihre Unmöglichkeit. Walser geht es um Goethe und bei ihm bleibt er auch sprachlich, ohne jedoch krampfhaft zu versuchen, ihn zu imitieren.

Dies ist besonders in den fiktiven Briefen bemerkbar, die Walser dem Altmeister durch die Feder sprechen lässt und die dennoch sprachgewaltig daherkommen. Da mag ihm verziehen werden, dass sie manchmal etwas Goethe-fern wirken: „Zum Glück ist die Aussichtslosigkeit keine unansprechbare Göttin. Ich handle Tag und Nacht mit ihr. Sie ist listig, ich bin auch nicht einfallslos. Ich denke nicht in jedem Augenblick an alles, was ich denken könnte. Diesen Gefallen darf man der Aussichtslosigkeit nicht tun."

Ebenfalls sinniert Walsers Goethe, der übrigens nah am biographischen Goethe gehalten ist und somit ein stimmiges Portrait zeichnet, über das Altern und wird sich dessen bei einem scheußlichen Sturz in Anwesenheit seiner Angebeteten schmerzhaft bewusst. Walser hilft ihm dabei geschickt wieder auf die Beine und kehrt die groteske Szenerie ins Tragische um – wie, möchte ich an dieser Stelle nicht verraten. So viel sei gesagt: Sehr bewegend.

Wie bereits erwähnt, vereint der Roman vieles: die Beziehung zwischen Maskenspiel und Authentizität, Komik und Tragik, Lüge und Wahrheit, Wahn und Wirklichkeit, Lesen und Schreiben, Frohsinn und Angst. In meinen Augen wird Walser all diesen Punkten meisterhaft gerecht und findet ergreifende Szenen dafür.

Sein Herz klopfte. Schlug gegen die Brustwand. Schlug im Hals hoch. Er musste ein Fenster aufreißen, frische Luft einziehen, die Arme bewegen, er spürte, es gibt Gedanken, an denen man ersticken kann.

Den Goethe-Liebhabern (und vielleicht Werdenden) sei gesagt, dass Walser viele Goethe-Verse versteckt zitiert und sie schließlich gedanklich weiterspinnt. Hier ein Beispiel:

Wo bleibt dein Halt, die eingeübte Angst vor dem Sturz in die grelle Armut. Nichts macht so arm wie eine Liebe, die nicht glückt. Schreib's auf. Dir gab doch ein Gott zu sagen, wie du leidest. Was für ein elender Vorteil: Sich erschießen muss man können. […] Du flüchtest ins Schreiben … Du hast nie, nie, nie gelitten.

„Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt / Gab mir ein Gott zu sagen was ich leide.“ (Goethe-Original)

Zum Schreibstil sei noch gesagt, dass viele Sätze zu gelungenen Sentenzen werden. So lässt er Goethe beispielsweise sagen:

Der Ursprung jeder Tragödie ist immer die Liebe gewesen.

Walser reduziert außerdem gerne - was er inhaltlich als Essenz herauskristallieren möchte, setzt er auch sprachlich konsequent um. Somit sind manche Dialoge wie ein Theaterstück dargestellt. Dieser Kunstgriff mag gewiss nicht jedem gefallen, mir sagte er jedoch sehr zu, nachdem ich mich daran gewöhnt hatte.

Nicht immer spricht der Autor direkt aus, um was es ihm geht, sondern zwingt den Leser zwischen den Zeilen zu lesen. Um die Wechselbeziehung zwischen Kunst und Leben, der erlebenden und schreibenden Person, zu thematisieren, lässt er beispielsweise Goethe seine Ulrike bitten, „mir zu erlauben, ER zu sagen. ER ist der, den ich nötig habe, um ICH zu sein. [...] ER ist eine Fassade, von der man hofft, sie wachse nach innen. ICH ist das Geständnis, dass keine Fassade gelingt."

In seinem Gipfelgedicht der deutschen Sprache, der Marienbader Elegie, fand Goethe schließlich ein finsteres Fazit über das letzte Kapitel 'Der Dichterfürst und das junge Mädchen' und setzte mit diesem Klagelied der unmöglichen Liebe ein lyrisches Denkmal: „Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren, / Der ich noch erst den Göttern Liebling war; /... Sie drängten mich zum gabeseligen Munde / Sie trennen mich und richten mich zu Grunde" (Goethe)

Walser gab mir mit seinem Roman die Möglichkeit, jenes Gedicht - nach Beendigung der Lektüre - mit anderen Augen zu lesen. Hierfür bin ich sehr dankbar. Ich möchte jedem einen Blick in dieses Buch empfehlen.

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