Rezension zu "Der Zeichner" von Martyn Bedford
Gregory Lynn, 35 Jahre alt, mit viereinhalb Jahren Einzelkind geworden, verlor als Minderjähriger seinen Vater durch einen schrecklichen Unfall und im besagten Alter von viereinhalb starb seine etwas ältere Schwester Janice an Meningitis.
Er wurde von den Lehrern, bis auf wenige Ausnahmen getriezt, weil er zu intelligent ist und die Lehrkräfte gerne mit kontroversen Fragen herausforderte. Ein Unding in den Sechzigern und Siebzigern in England, wo Kinder noch geschlagen werden durften. Er ist schlau, begabt und ein begnadeter Zeichner.
Großgewachsen, schlank, aber wichtig stark mit schwarzen Haaren und einer Heterochromie wie David Bowie, verschiedenfarbige Augen, eines braun, das andere grün. Dafür wurde er von Mitschülern als Zwieauge verspottet. Wegen seines feminin klingenden Familiennamens Lynn wurde er von einem Lehrer besonders verhöhnt.
Wegen eines Zwischenfalls, der aufgebauscht wurde, flog er als Teenager unberechtigt kurz vor der Mittleren Reife von der Schule, was sein ganzes Leben zerstörte.
Zu Beginn des Psychogramms ist seine Mutter, Friseurin und Kettenraucherin, Marion, nachdem sie ihrem Lungenkarzinom erlegen ist, eingeäschert und ihre Asche verstreut worden. Es fängt schon beklemmend, aber bewegend an, daß Greg einen Teil ihrer Asche ißt.
Als er eine Inventur des gemeindeeigenen Hauses vornimmt ( das in London steht ), in welchem er nun ganz alleine lebt, findet er auf dem Dachboden seine alten Zeugnishefte mit sämtlichen, auch fiesen Beurteilungen.
Sein kalter Hass wird flammendheiß und er entwirft akribisch seinen Racheplan, den er Korrekturmaßnahmen nennt. Nach und nach will er den verhaßten Lehrern alle Schmach und Demütigungen heimzahlen. Er plant detailliert und geschickt und zeichnet, was er für die Zukunft in seiner Phantasie ausmalt. Denn was er zeichnet, wird manchmal Wirklichkeit ...
Dieses Buch ist schnörkellos und packend geschrieben in der Ichperspektive. Hautnah schlüpfen wir in Gregs Haut. Er ist für mich ein ambivalenter Charakter. Sympathisch, bemitleidenswert, manchmal verabscheuungswürdig, manchmal zutiefst abzulehnen. Er ist zersplittert in sich und ist sich dessen gar nicht voll bewußt. Der Tod seiner Mutter treibt ihn endgültig über die Klippe der Ausgeglichenheit in den dunkelsten Abgrund.
Martyn Bedford hat diese Destruktion eines Individuums erschreckend gespiegelt mit philosophischem Anspruch und auf äußerst hohem Niveau.
Man mag Greg und lehnt ihn auch immer wieder ab, um ihn dann doch erneut ins Herz zu schließen. Wie erwähnt, sehr ambivalenter Protagonist, aber man kann nach dem Lesen seinen Antrieb und Motivation wesentlich besser nachvollziehen, wenn auch nicht in allen Belangen gutheißen.
Ein Meisterwerk, spannend und suggestiv, zum Verschlingen! Superb!