Cover des Buches Kompass (ISBN: 9783446253155)
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Rezension zu Kompass von Mathias Énard

Ein Konglomerat an Wissen

von serendipity3012 vor 7 Jahren

Rezension

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serendipity3012vor 7 Jahren
Ein Konglomerat an Wissen

„Die Orientalen haben nicht den geringsten Sinn für den Orient. Den Sinn für den Orient, den haben nur wir Westler, […] “ S. 210

Das vorangestellte Zitat der Dichterin und Romanautorin Lucie Delarue-Mardrus, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgedehnte Reisen im Orient unternahm, wirft ein denkenswertes Schlaglicht auf das Thema von „Kompass“, den im Jahr 2015 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman von Mathias Enard. Weiter wird erläutert:

„Für Sarah fasst allein diese Passage den Orientalismus zusammen, den Orientalismus als Träumerei, den Orientalismus als Beweinung, als stets enttäuschende Erforschung.“

Sarah, eine kluge und belesene Orientalistin, ist die große und unglückliche Liebe des Ich-Erzählers, des Wiener Musikwissenschaftlers Franz Ritter. Es ist schon einige Jahre her, dass beide sich begegneten, Zeit auf Forschungsreisen in Syrien und im Iran miteinander verbrachten. Beide teilten die Faszination für den Orient (und teilen sie noch), kamen sich näher, letztendlich wurden sie kein Paar, hielten aber mehr oder weniger sporadisch Kontakt in Briefen und Emails.

Zu Beginn des Romans hat Ritter gerade eine alarmierende medizinische Diagnose erhalten, wobei unklar ist, was genau er hat und wie gefährlich seine Krankheit wirklich ist. Es ist eine einzige Nacht, die wir Leser mit ihm verbringen, eine Nacht der Schlaflosigkeit, in der seine Angst vor Krankheit und Tod teilweise schon hypochondrische Ausmaße anzunehmen scheint, und eine Nacht, in der er seine Geschichte mit Sarah Revue passieren lässt.

Dabei zeigt sich, über welch enzyklopädisches Wissen Ritter verfügt. Großes Thema für Sarah und Franz war stets die Beziehung zwischen der westlichen Welt und dem Orient, die Einflüsse der orientalischen Künste auf die unseren. In dieser Nacht, die im Kern seiner unerfüllten Liebe zu Sarah gewidmet ist, lässt er uns Leser teilhaben, erzählt Geschichten, die er beispielsweise in Syrien selbst erlebt hat, schweift ab zu Komponisten und Schriftstellern, zu ihren Werken und ihren Ursprüngen. Er bringt Sitten und Bräuche des Orients zur Sprache und erzählt immer wieder von den Erfahrungen früherer europäischer Reisender in verschiedene Länder des Orients. Die Fülle dessen, was dieser Ritter dabei unterbringt, ist manchmal nahezu erschlagend, die Art und Weise, wie er stets Querverbindungen zieht, wie ihm an der einen Stelle scheinbar zufällig noch eine Episode einfällt, und er mit leichter Hand einen Exkurs startet, an dessen Ausgangspunkt er mühelos zurückfindet - all dies ist brillant und zeugt vom unerschöpflichen Wissen Enards. Umso deutlicher wird aber, wie alles miteinander verbunden ist, wie sich die Künste und das Wissen gegenseitig beeinflussten, wie wir uns am Ende viel näher sind, als uns das klar war, auch wenn die große Sehnsucht des Westens nach dem Orient letztlich womöglich nicht umfassend gestillt werden kann, da eine wirkliche Verschmelzung nicht möglich ist, auch wenn wir uns das mit der eingangs zitierten Lucie Delarue-Mardrus wünschen.

„Während ich […] die Dunkelheit absuchte, um sicherzugehen, dass der Hund sich nicht anschickte, mir etwas wegzufressen, dachte ich, dass nur der Hausierer wirklich etwas über das Leben dieses Stammes erfährt, denn nur er nimmt daran teil […] Wir anderen bleiben Reisende, eingeschlossen in ihr Selbst, die vielleicht in der Lage sind, wer weiß, sich im Kontakt mit anderen zu verändern, aber sicher nicht dazu, dieses Leben in seiner Tiefe zu erfahren. Wir sind Spione, unsere Kontakte sind flüchtig und verstohlen wie die von Spionen.“ S. 202

So ist es bei der großen Fülle an Wissen, das Enard wie nebenbei vor dem Leser ausbreitet, manchmal wie eine erholsame Verschnaufpause, wenn wir zurückkehren zu Franz Ritter in seine Wohnung, in diese vertraute Alltäglichkeit und zu seinem Liebesleid. Diese Passagen lockern den Roman ein wenig auf.

Enard konzentriert sich in „Kompass“ auf Vergangenes; aktuelle Ereignisse werden nur am Rande erwähnt, stehen nicht in seinem Fokus und gehören nicht zu seiner Geschichte. Man kann unglaublich viel lernen bei der Lektüre seines Romans. Sie ist nicht immer ganz einfach, lohnt sich aber, auch durch die gelungene Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller in ein meist elegantes, manchmal – wo angebracht – auch leicht derbes, griffiges Deutsch. Die Sätze, die zwar oft lang und verschachtelt daherkommen, wirken durch ihren Rhythmus lebendig, und man verliert sich nicht in ihnen, obwohl sie durch das manchmal assoziative Monologisieren des Protagonisten zuweilen höchste Konzentration erfordern.

Wenn man Enard selbst erlebt, wie ich letztes Jahr auf einer Lesung die Gelegenheit hatte, kann man nicht umhin, ihn als Alter Ego seines Franz Ritter zu betrachten – was man natürlich nie tun sollte – es ist klar, dass beide Gemeinsamkeiten haben: Enards Wissen, das in den Roman Einzug erhalten hat, lässt auch im direkten Kontakt Staunen, doch tritt er nicht auf wie ein verkopfter Professorentyp. Im Gegenteil kann man einen höchst sympathischen Mann erleben, der gut deutsch spricht, sehr humorvoll ist und auch bei vermeintlich trivialen Themen mitreden kann. Sein fulminanter Roman hat den Prix Goncourt und den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung völlig zu Recht gewonnen, und auch wenn die Lektüre dem Leser zuweilen einiges abverlangt, sei sie jedem, der sich für das Verhältnis zwischen der westlichen und der orientalischen Welt interessiert, wärmstens empfohlen.


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