Rezension zu "Calixt" von Matthias Zimmer
REZENSION - Nach einer Reihe politischer Sachbücher erschien 2021 mit „Morandus“ der erste Roman des Politikwissenschaftlers Matthias Zimmer (62), in dem er sich populärwissenschaftlich mit der Zeit des Nationalsozialismus befasste. Jetzt folgte im April, ebenfalls in der Edition Faust erschienen, sein wiederum beeindruckender zweiter Roman „Calixt“. Darin geht es um die unterschiedlichen Sichtweisen der Deutschen in Ost und West über die DDR sowie die Problematik der „Wiedervereinigung“ – in Ostdeutschland mehrheitlich „Wende“ genannt – und deren gesellschaftliche Folgen. Im Gegensatz zu wissenschaftlichen Publikationen ist es Zimmer auch in diesem Roman wieder möglich, neben sachlicher Argumentation und Fakten auch emotionale Aspekte in die Betrachtung einfließen zu lassen, die bei der Diskussion dieser Thematik nicht unwichtig sind.
Die Protagonisten in Zimmers Geschichte sind der inzwischen verstorbene, international angesehene DDR-Historiker Rudolf Herzberg und seine Ehefrau Rita als Vertreter der Gründergeneration sowie beider Sohn Franco, der nach seiner Flucht 1988 jetzt als Gymnasiallehrer im Westen lebt, und die nach wie vor in Thüringen lebende und politisch bei den Linken aktive Tochter Rosa. Der Autor lässt uns anhand ihrer und weiterer Biografien sowohl in die Anfangsjahre der DDR zurückkehren als auch die gesellschaftspolitische Gegenwart der östlichen Bundesländer erleben. Dabei ist es diese fast unbarmherzig wirkende Gegenüberstellung so verschiedener bis gegensätzlicher Sichtweisen der Protagonisten, die die Lektüre des Romans „Calixt“ äußerst faszinierend und spannend macht.
Francos Eltern waren überzeugte Sozialisten: Mutter Rita hatte die Schrecken des KZ Ravensbrück durchleben müssen. Als Opfer des Faschismus stand für sie fest: „Sozialismus oder Barbarei“. Der katholisch erzogene Vater hatte sich nach dem Krieg von der Kirche abgewandt: „Wo die Kirche die Bestien der Menschheit nicht zurückhalten kann, kann es vielleicht der Sozialismus.“ Als Historiker war er in der DDR nie politisch aktiv, eher ein „Sozialist aus Vernunft“. In seinen Gesprächen mit dem Todesengel Esra – der intellektuell interessanteste Teil des Romans, aber in Summe doch zu ausschweifend – gibt Historiker Rudolf Herzberg rückblickend aber zu, im Laufe der DDR-Geschichte die Wahrheit geschönt zu haben: „Wahrheit ist relativ zu der Situation, in der man sich befindet.“ Den Sozialismus hatte er als Bollwerk gegen den Faschismus gesehen. Diesen zu verhindern „war oberstes Gebot, damit konnte auch der Zweck die Mittel heiligen“, verteidigt er sich im Zweigespräch mit Esra, der ihm vorwirft, sich selbst belogen zu haben.
Mögen auch viele Argumente, die Matthias Zimmer in seinem Roman verarbeitet, einzeln betrachtet nicht neu sein, macht allerdings deren geballte Gegenüberstellung – der durchaus verschiedenartige Rückblick der Ostdeutschen auf ihr Alltagsleben in der DDR und der leider oft einseitige Blick vieler Westdeutscher – den Roman zu einer interessanten Lektüre, die auch nach der letzten Seite des Buches noch nachwirkt. So hätten viele Ostdeutsche mit ihrem Ruf „Die Mauer muss weg“ nicht zwangsläufig die Vereinnahmung ihrer Heimat durch den Westen als Kolonie „Fünfneuland“ erleben wollen, heißt es im Buch, sondern hofften auf einen neuen Sozialismus, „der aus sich selbst heraus leben sollte“. Sie sahen im Ende der DDR nicht automatisch die Vereinnahmung durch den Westen, sondern eine „Chance für eine neue Utopie, die sich nicht mehr durch den Antifaschismus legitimierte“.
Nach Abwägung aller Argumente lässt Autor Matthias Zimmer seinen 1988 aus der DDR geflohenen Franco feststellen: „Ich habe heute mehr Verständnis für die unterschiedlichen Wege, die Menschen gegangen sind, für die unterschiedlichen Biografien. Und ich habe Respekt vor den Lebensleistungen, für das Hierbleiben [in der DDR] unter schwierigen Bedingungen.“ Der Roman „Calixt“ kann zu noch besserem Verständnis zwischen Menschen in Ost und West beitragen, zum Verständnis der unterschiedlichen Beweggründe und Zwänge des individuellen Handelns, und dabei helfen, die in den Köpfen vieler Westdeutscher nach über 30 Jahren noch immer bestehende Mauer zwischen West und Ost endgültig abzubauen.