Was für ein fantastisches Leben. Adoleszent in der besten aller möglichen Welten. Der längste Frieden den Europa je gesehen hat, ein noch vor Jahrzehnten unvorstellbarer Wohlstand für Alle. Vom Tellerwäscher zum Millionär, man muss nur wollen. Jede*r kann alles erreichen. Was für ein sagenhaftes Glück jetzt geboren zu sein und die Jugend verbringen zu dürfen. Die Jugend, die schönste aller Zeiten. Alles scheint möglich. Und dann auch noch an die Uni gehen zum Studieren. Die verlängerte Adoleszenz schlechthin. Zufriedenheit und Zuversicht strömen in den Adern der Generation Y, der Millenials. Was für ein fantastisches Leben, könnte sich Matthieu Jimenez‘ Alter Ego denken.
Doch Jimenez‘ autobiografisch inspirierter Protagonist ist etwas aus der Zeit gefallen, so scheint es. Seine Einstellung passt eher zur Generation X. Aber man sucht sich seinen Geburtstag ja auch nicht aus. Ian Curtis, der Sänger von Joy Division, steht schemenhaft Pate für die No-Future Stimmung des Romans. Wie Curtis ging und geht es vielen jungen Menschen: man ist sich absolut sicher, dass man den dreißigsten Geburtstag nie erleben wird. Entweder bricht das Wirtschaftssystem vorher zusammen, der nächste Weltkrieg bricht aus, eine Zombieapokalypse rafft alle dahin oder man findet ein aktuelleres und glaubwürdigeres Endzeitszenario, dass die eigene Lebensunfähigkeit zu verdecken vermag.
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Was bleibt einem da schon anderes übrig, als sich dem erweiterten Klub 27 anzuschließen. Den Soundtrack der Selbstzerstörung liefern jedenfalls Ian Curtis (gestorben mit 23 Jahren) oder Tim Buckley (gestorben mit 28 Jahren). Und im Hintergrund wachen schemenhaft Kurt Cobain, Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Jim Morrison. Keiner erreichte die 30 und alle hatten ein ausgesprochen drogenaffines Leben. Also her mit Bier, Wodka, Marihuana, LSD, Speed, Koks, MDMA, GBH und Pilzen oder was auch immer gerade verfügbar ist.
Die Berechnung des Wahnsinns ist eine Art Tagebuch der Selbst- und Fremdzerstörung. Das muss man aushalten können. Einerseits begleiten wir den Protagonisten auf der Suche nach seiner Identität, seinem Sinn des Lebens, indem er mit seinem Vater auf den Spuren der Familienvergangenheit wandelt. Und zum anderen begleiten wir ihn bei seinem Versuch das Ich auszulöschen. Und da ist der Ich-Erzähler nicht besonders wählerisch. Alles was betäubt, ist willkommen, jede Sucht ist akzeptabel, jede Zerstreuung gewollt. Wer fühlt, verliert. Konsequenzen sind weitestgehend egal. Wie soll man bitte schön auch zugedröhnt die Zukunft antizipieren und vielversprechende Zukunft gibt es ja eh nicht. So zumindest irgendwelche Stimmen im Kopf.
Nun hat aber dummerweise alles Konsequenzen und das gilt genauso fürs Handeln, wie für das Nicht-Handeln.
Wer es sich zutraut in die Abgründe der menschlichen Psyche herabzusteigen, wer es aushält, der konsequenten Inkonsequenz beizuwohnen, wer Ambivalenz der Eindeutigkeit vorzieht, wird mit einem grandiosen Roman belohnt. Matthieu Jimenez‘ Debüt ist kein Party- und Drogenrausch, auch wenn man es so lesen könnte, wenn man denn wollte. Jimenez hat einen gewaltigen und gewalttätigen Einstand geliefert. Ein psychologisches Feuerwerk, Grundlagenliteratur für angehende Psychologen und Soziologen. Eine Mischung aus Sozialphobie, Narzissmus, Minderwertigkeitskomplex, Devianz, Depression, Hedonismus, Überforderung, Angst vor dem Alleinsein, Beziehungsunfähigkeit und natürlich dem Peter-Pan-Syndrom. Die Symptome der Entfremdung wie sie Erich Fromm oder Arno Gruen für den (Kultur-)Kapitalismus beschrieben haben.
Wenn es einen Grund gab, wir haben ihn verloren
Es gibt so viel zu entdecken, wenn wir bereit sind die Mauern um uns herum einzureißen. Und Jimenez legt die Posaunen von Jericho an, um seinen Schutzwall für alle Leser*innen einstürzen zu lassen und sein innerstes schonungslos offenzulegen. Es ist ein Schlag ins fröhlich grinsende Gesicht der Startup-Hipster-Kultur. Gemeinsam ist ihnen zwar der hedonistische Ansatz, es trennt sie aber die Illusion von einer lebenswerten Zukunft. Hier ist nichts einfach. Hier liegt das Geld nicht auf der Straße, vielmehr liegen die Träume der Menschen auf der Straße. Zermalmt wie ein Hase.
Macht kaputt, was euch kaputt macht, forderten Ton, Steine, Scherben einst. Nur was ist, wenn wir uns selbst kaputt machen?
Der Roman ist verdichtet bis über den Schmerzgrenze hinaus. Die Wochentage spielen keine Rolle. Hier geht es um die drei, manchmal vier Tage des Wochenendes. Es wird nicht das Leben seziert, sondern das Leiden. Hier wird Sex mit Liebe verwechselt, nicht allein sein können mit einem Bedürfnis nach Nähe – oder ist das sogar alles bewusst und wird als kleineres Übel akzeptiert, auch auf die Gefahr hin, jemand anderes in den Mahlstrom der Ich-Auflösung mit hinabzuziehen. Zu schwach, um etwas zu verändern und sich ans rettende Ufer zu begeben oder einfach zu klug, um sich nicht wohlklingende Argumente zurechtzulegen, warum die Verweigerung von Allem der einzig richtige Weg ist.
Am Ende brennt sich das Destillat des Romans in die Netzhaut: Triebe, Tränen, Tritte. Der Neo-Existenzialismus des Matthieu Jimenez.