Cover des Buches Kinderland (ISBN: 9783943143904)
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Rezension zu Kinderland von Mawil

Unglaublich dichte Story mit viel Herz und Humor

von Mueli77 vor 9 Jahren

Rezension

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Mueli77vor 9 Jahren

Ostberlin im Sommer 1989. Große Veränderungen kündigen sich an. Viele Ostbürger sind bereits über Ungarn und Österreich in die BRD geflüchtet und jene die zurückbleiben haben es nicht einfach. Das merkt auch der junge Mirco Watzke, Schüler der 7a. Mitschüler erscheinen nicht mehr in der Schule und fehlen unentschuldigt, keiner weiß, wo diese und ihre Familien abgeblieben sind, können es sich aber sehr wohl denken. Für Mirco beginnt ein abenteuerlicher Sommer, mit einem neuen Schüler, Torsten Maslowski, der so ganz anders als Mirco ist und trotzdem verbindet die beiden eine gemeinsame Leidenschaft. Ping Pong, oder auch Tischtennis genannt. Schnell werden aus den beiden Jungen Freunde und das, obwohl sie grundverschieden sind. Während Mirco zum Gottesdienst geht, Musikunterricht nimmt und an den Pioniernachmittagen und Schulveranstaltungen teilnimmt, ist Torsten eher der Rebel. Er klaut in der Kaufhalle Süßigkeiten, hasst Pionierveranstaltungen und Lehrer sowieso. Aber als die Idee aufkommt zum bevorstehenden Pioniergeburtstag ein Tischtennisturnier zu veranstalten sind die beiden Feuer und Flamme. Mircos Eltern sind von Torsten wiederum kein bisschen begeistert. Sie denken, dass er der falsche Umgang für ihren Sohn ist, und verbieten Mirco die Teilnahme am Ping Pong-Turnier. Mirco hat aber inzwischen seinen eigenen Kopf und will trotzdem teilnehmen. Zur Not gegen den Willen seiner Eltern. Aber es kommt alles anders. Denn am Tag des Turniers holen Mircos Eltern ihn von der Schule ab, um mit ihm über die am Vorabend geöffnete Grenze nach Westberlin zu gehen …

Im ersten Moment ist Kinderland eine von vielen Erzählungen aus ostdeutscher Sicht zur Wendezeit. Schaut man jedoch ein wenig genauer hin und lässt sich von der Geschichte tragen, dann wird einem schnell ein kleines Juwel offenbart. Nicht nur, aber gerade dann, wenn man selbst ein Kind dieser Zeit und Umstände ist, kommen einem viele der Ereignisse, der Orte und Gegenstände sehr vertraut vor. Dies geht bei der Kinderzimmerausstattung los, über die markanten ostdeutschen Linienbusse, die Schulen und Klassenzimmer, mitsamt den wirklich grauenhaften Beton-Tischtennisplatten auf den Sportplätzen, bei denen immer irgendwo eine Ecke und Kante abgeplatzt war und das Netz entweder fehlte oder gleich selbst aus Beton war. Egal, was Mawil hier erzählt und visuell abbildet, es ruft bei mir sofort eigene Erinnerungen hervor und das ist es, was für mich ein gutes Werk ausmacht. Eine Geschichte, die mitreißt, Bilder, die überzeugen und Gefühle und Erinnerungen beim Leser auslösen.
„Kinderland“ wurde in meinen Augen nicht umsonst mit dem Preis als „Bester deutschsprachiger Comic“ des „Max und Moritz“-Preises 2014 ausgezeichnet. Mit viel Humor und Einfühlungsvermögen und sicher auch dem Einsatz biografischer Elemente erzählt Mawil eine Geschichte, die nicht nur jene in ihren Bann zieht, die selbst mit der Zeit und den politischen Ereignissen verbunden sind, sondern vor allem eine Geschichte von Freundschaft und den Veränderungen während der eigenen Pubertät. Jeder, und ich meine hier wirklich jeder, wird sich in diesem Band in irgendeiner Figur wiedererkennen. Mawil hat eine unglaubliche Vielfalt an Figuren erschaffen mit erstaunlichen fein ausgearbeiteten Charakterzügen, vergisst darüber hinaus aber nicht den Humor. Er geht sogar soweit eine Figur einzuarbeiten, die in ihrer Funktion als Gruppenratsvorsitzende und mit ihrem Namen, Angela Werkel, an eine bekannte deutsche Größe in der Politik erinnert. Hierfür nutzt Mawil seine satirischen Erfahrungen aus den Arbeiten für den Tagesspiegel und trifft dabei ganz gezielt den Nagel auf den Kopf.

Schlägt man Kinderland auf, fällt einem sofort der Funny-Stil auf. Man erwartet eine lockere Geschichte mit viel Witz, bekommt aber stattdessen sehr viel mehr. Die Optik täuscht über den wahren Inhalt hinweg, andererseits ermöglicht es dem Leser so auch einen leichteren Einstieg. Die erste Szene erzählt von einem durchaus bekannten Problem heranwachsender Jungen und sorgt somit für die ersten Lacher. Trotz des durchweg minimalistischen Stils, dem ähnlichen Seitenaufbau von drei Panelzeilen pro Seite, der bis auf die Kapitelbilder und das große Finalbild niemals durchbrochen wird, und der somit fast schon starren Ordnung kommt sehr schnell eine gewisse Lockerheit auf. Dies liegt aber auch an dem skizzenhaften Zeichenstil Mawils der vor Dynamik nur so sprüht. Um dies in den kleinen Panels zu erreichen, schreckt Mawil auch nicht davor zurück die Optik ein wenig zu verbiegen, auf Anatomie keinen Wert zu legen und den Blickwinkel durchaus ungewöhnlich anzulegen.

Doch die mit dicken Outlines versehenen Bilder würden nur halb so gut funktionieren, wenn da nicht auch noch die außergewöhnlich gelungene Kolorierung wäre. Leider gibt es im Buch selbst keinen Hinweis darauf, ob hierfür ebenfalls Mawil verantwortlich ist, oder ob eine der vielen in der Danksagung am Schluss genannten Personen hierbei Hand angelegt hat. Die gesamte Farbgebung ist eher gedeckt gehalten, vorrangig in ruhigen Erdtönen. Selbst als es in den bunten und grellen "Westen" Westberlins geht, werden die Farben nicht wirklich aufdringlich, sondern lediglich etwas heller und kräftiger, ohne dabei aus dem Gesamtkontext auszubrechen.

Selbst wenn Mawil, der wie ich auch ein Kind der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und des Ostens ist, sagt, dass „Kinderland“ rein fiktiv sei, fällt es mir schwer dies zu glauben. Zu viel ist hier mit eingeflossen, dass auch ich so, oder ähnlich, selbst erlebt habe und deshalb glaube und denke, nein weiß ich, dass etwas von Mawils eigener Kindheit hier eine nicht unwesentliche Rolle spielt. Doch die Grenze ist schwammig, und so fällt es schwer zu erkennen was Fiktion und was Wahrheit ist, selbst für jemanden wie mich, der diese Zeit genauso miterlebt hat. Am Ende bleibt ein unglaubliches Abenteuer mit tollem Artwork und einer fesselnden sowie emotionalen Geschichte, der es trotz aller Ernsthaftigkeit nicht am nötigem Humor fehlt. Der Widerstand und die Leichtigkeit des Lebens in der Pubertät eines jeden Jungen sind auf fast jeder Seite präsent und zeigen so auf leichtfüßige Art und Weise mit einem zwinkernden und einem mahnenden Auge sich den täglichen Aufgaben zu stellen und diese zu meistern. Manches ist einfacher, anderes wiederum nicht. Schlussendlich gibt es aber nur zwei Möglichkeiten, und auch wenn man nicht siegreich ist, kann man gestärkt und lehrreich aus dieser Erfahrung hervorgehen. So, oder so lernt man mit sich, seiner Umwelt und aufkommenden Problemen umzugehen, egal wie groß sie sind, oder einem selbst erscheinen.

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