Cover des Buches Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe (ISBN: 9783596193592)
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Rezension zu Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe von Max Scharnigg

Wunderschön, skurriler Liebesroman

von R-E-R vor 11 Jahren

Rezension

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R-E-Rvor 11 Jahren

Wie stellt man sich den typischen SZ Journalisten vor? Jung, dynamisch, erfolgreich mit allen dazu notwendigen Attributen? Oder doch eher verträumt, dem eigenen Intellekt nachsinnend? Nikol Nanz, der Held aus Max Scharniggs “Eiger Nordwand”, gehört eher zur zweiten Sorte. Eines Abends kehrt er von der Arbeit nach Hause zurück und findet vor seiner Wohnungstür ein fremdes paar Schuhe. Von drinnen hört er Stimmen. Seine Freundin M. und jemand, den er nicht identifizieren kann. “Ich stand etwas atemlos da, den Schlüssel in der Hand. Erschrocken wandte ich mich um, steckte den Schlüssel in die Manteltasche und ging hinunter, ganz so, als würde ich das Haus gerade verlassen.” Nikol verlässt das Haus mitnichten, dafür richtet er sich häuslich unter der Treppe ein. Gut versteckt hinter einem alten Kinderwagen und einer Kiste mit Wurfsendungen. Dort bleibt er sitzen und schreibt im Geist an seinem Artikel über die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand.

Max Scharnigg verbindet in seinem Debütroman sehr gekonnt die spannende Geschichte der Bergsteiger Ludwig Vörg und Anderl Heckmair, die im Juli 1938 gemeinsam mit Heinrich Harrer und Fritz Kasparek die Eiger-Nordwand erstmals durchstiegen mit der melancholischen Liebesgeschichte seines Helden. Nikol, der junge Journalist, lebt mit seiner Freundin M. in einer einsamen Beziehung. Aufgrund einer Krankheit die nicht näher benannt wird, verlässt diese seit geraumer Zeit nicht mehr die Wohnung. Alle Kontakte und Freundschaften sind in den Jahren eingeschlafen. Nikol hält nur durch seine Arbeit Verbindung zur Außenwelt. Was ihn trägt ist die Liebe zu seiner Freundin: “An ihrer Seite war das Unsichtbare sichtbar und das Unnütze wurde nutzbar. Alles, was ich bieten konnte, traf bei ihr auf Nachfrage. Sie war in allen Dingen, das was fehlte.“

Der leise Roman, dem ich anfangs eher gelangweilt folgte, nimmt etwa ab der Mitte Spannung oder zumindest Fahrt auf. Nämlich dann, wenn Nikol unter der Treppe von Herrn Schmuskatz entdeckt wird, einem alten Herrn aus der Parterrewohnung des Hauses. Bei Paprikahendl kommen sich die beiden näher und Nikol findet einen geduldigen Zuhörer, der am Ende sogar bereit ist, ihn vielmehr zwingt, seinen eigene Nordwand zu bezwingen. Nämlich die Treppen zu seiner Wohnung wieder hinaufzusteigen. Parallel zum Treppenaufstieg erzählt Scharnigg dann sehr fesselnd und anschaulich von den vier Bergsteigern.

Das sich das ganze am Ende als surrealistischer Traum entpuppt, konnte sich der gewiefte Leser natürlich schon vorher denken. Wie anders hätte es der Held sonst wochenlang ohne Essen, Trinken und Toilette sitzend unter einer Treppe ausgehalten? Aber derlei profane Überlegungen schmälern am Ende nicht das Lesevergnügen. Scharnigg erzählt hier eine wundervoll melancholisch romantische Liebesgeschichte zweier einsamer Seelen (eigentlich sogar drei, wenn man Schmuskatz mitzählt) die aus der Zeit gefallen mitten in München gelandet sind. Genauer gesagt in der Jutastraße in Neuhausen (kleine Empfehlung für Nichtmünchner: sehenswerter Stadtteil mit schönen Cafés).

Besonders hervorzuheben ist meiner Meinung nach die feine Sprache des Autors. Seine Sätze klingen wie schüchterne Erklärungen, rührend, naiv und altmodisch elegant. Sehr schön sind auch einige seiner Wortschöpfungen. “Mädchenroulade” für den Anblick seiner in der Schlafdecke eingerollten Freundin. Oder “Kitzelschnauf” dafür dass Nikol seiner Freundin nachts beim Schlafen den Atem in den Nacken bläst. Man verrät nichts, wenn man verrät dass beide Aufstiege am Ende geschafft werden. Der Weg ist hier das Ziel.

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