Bei der Auflösung der Hamburger Wohnung seiner verstorbenen Mutter findet der Berliner Schriftsteller Mischa Grinbaum im Sekretär etliche Briefe, die die Mutter vor Jahren an ihn geschrieben, aber nie abgesendet hat. Als er sie liest, kommen Erinnerungen zurück an die Kindheit und an die Familiengeschichte der Grinbaums.
Die ist an einigen Ecken verfremdet, aber sonst ziemlich deckungsgleich mit jener der Familie Biller, mit Mischa als Maxim und Aljona als Mutter Rada. Die Grinbaums kommen aus Odessa, sind nichtreligiöse Juden, der Großvater väterlicherseits Armenier. Durch pures Glück überstehen sie im Krieg die Massaker der Nazis und davor und danach die Verfolgungswellen Stalins. 1960 kommt Mischa zur Welt. Der stramm zionistische Vater erwirkt die Ausreise in den Westen, die 1971 erfolgt - doch statt nach Israel geht es nach Hamburg, wo der Vater, der die Familie ernähren muss, einen lukrativen Job erhalten hat. Mutter Aljona, die in der Sowjetunion Geografie studiert hat (das angestrebte Medizinstudium blieb ihr als Jüdin verwehrt), bekommt eine Stelle als Forschungsassistentin an der Hamburger Uni. So rein nebenbei schreibt sie - auf russisch - Erzählungen aus ihrem Leben, die ihr Sohn, der - erst in München und dann in Berlin - Journalist und Autor wird, irgendwann, als die Mutter schon alt und pensioniert ist, bei einem Verlag unterbringt. Das Buch der Mutter wird ein Erfolg, ein zweiter Band mit Erzählungen kommt aber nicht mehr zusammen, weil die Mutter vorher stirbt.
In unsortierten Fragmenten wird uns diese Geschichte erzählt, eine Geschichte von Heimat und Fremde, von Sprache und Literatur, von Verbundenheit und ihrem Fehlen. Während Mutter und Sohn ganz in der Welt der Kultur und des Schreibens zuhause sind, bleibt der Vater, der keine literarischen Ambitionen als Leser oder gar Schreiber hat, außen vor - er verlässt die Familie und heiratet eine nichtjüdische Deutsche, die er - ausgerechnet! - in Israel kennengelernt hat. Seine letzten Jahre verbringt er so unrussisch und unjüdisch, wie man es sich nur denken kann: In einem Klinkerhäuschen in Othmarschen. Die Mutter aber lebt im Hamburger Exil ganz in ihrer russischen Welt, in den Erinnerungen an Odessa, in der sentimentalen Hingabe an russische Dichterinnen und Chansonniers aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre Texte sind russisch, ein unmodernes literarisches Russisch, wie der Icherzähler Mischa bemerkt.
Er selbst ist nirgendwo daheim. Er spricht mit der Mutter noch russisch, aber seine Erinnerungen an Odessa sind bruchstückhaft, russische Schreibschrift kann er schon nicht mehr lesen. Deutschland ist zwar Wohnort, und die deutsche Sprache die seiner Arbeit und Kunst, aber ihm bleibt immer der Blick von außen, des Fremden. Er kennt zwar Gott und die Welt, lauter Leute aus der Medien- und Verlagswelt, er ist Stammgast in den angesagten Bars, aber vertrauensvolle Freundschaften kann er offenkundig nicht machen, immer sagen sie alle irgendwann was Unpassendes oder Dummes - gern antisemitisch dazu - und dann ist es aus mit der Freundschaft. Auch aus dem Judentum zieht er keinen Halt, Mischa hat es einmal - heimlich - probiert, sich in Israel niederzulassen, aber das hat auch nicht funktioniert. So ist diese Familiengeschichte auch eine über das Fremdsein in verschiedenen Kulturen.
Mama Odessa dürfte nicht von Maxim Biller sein, wenn er nicht um sich treten und kräftig austeilen würde. Der Springerverlag kriegt sein Fett weg für seinen scheinheiligen Philosemitismus, und wir erfahren von der zerbrochenen Freundschaft mit einem Schriftsteller, in dem bis zur unzweifelhaften Kenntlichkeit verfremdet Jakob Arjouni abgebildet ist, der hier gar kein gutes Bild abgibt. So wenig wie die eigenartige Nachbarin Martha Neustadt mit ihrem Buch über den Wunderheiler Gröning (den gab es wirklich), das Mischa bei Suhrkamp lancieren soll. Auch hinter dieser garstig verzerrten Figur wird eine reale Person stecken - wer, konnte ich freilich nicht entschlüsseln.
Diese galligen Fiesheiten hätte es für meine Begriffe nicht gebraucht, sie trüben den Ton in diesem sonst so wehmütigen und sanften Buch, mit dem Maxim Biller ansonsten ein kleines Wunder gelungen ist: Eine epische Familiengeschichte über drei Generationen auf nicht einmal 250 Seiten; ein tiefsinniges Buch, das sich locker und leicht wegliest wie eine Zeitungskolumne; ein komisches, anrührendes, lustiges und doch tieftrauriges Buch. Alles Schwere gerät leicht und luftig in Billers eleganter Prosa und jenen witzig-bissigen Dialogen, in denen Mutter und Sohn allem Bösen spotten und ihre Probleme zu Pointen biegen. Nur ganz am Rande deutet Biller an, was im Innern mit all dem geschieht, was sich in dieser Weise nicht aufbereiten lässt - wenn all die ungesagten und unverarbeiteten Probleme zu einem nicht erklärbaren juckenden Ausschlag auf der Haut führen.
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat Maxim Biller erklärt, dass er keine weiteren Romane mehr schreiben kann und will. Ich kann ihn verstehen, aber es wäre angesichts dieses gelungenen Buches überaus schade.















