Wenn man sich die Eckdaten des Hördokuments ansieht, erwartet man wirk5lich nicht den mitreißenden und starken Eindruck, den man beim Hören erhält. 30 Jahre lang lagen einige Tonbänder der Aufzeichnung des Stammheim-Prozesses im Staatsarchiv. Für den Geschichtsinteressierten ist es ein Glücksfall, dass die Bänder nicht der eigentlich intendierten Löschung unterzogen wurden.
Trotz der bloß bruchstückhaften Überlieferung - es ist gerade einmal ein kompletter Verhandlungstag von mehreren hundert Tagen zusammen mit ein paar kurzen Abschnitten aus anderen Tagen verfügbar - kommt beim Hören nahezu Spannung auf. Dabei werden gar nicht die großen Themen aufgemacht. Die rhetorisch begabten Anwälte beschweren sich etwa wütend über die Durchsuchung nach Waffen, der sie bei Beginn der Verhandlungstage stets unterzogen werden. Ein tätlicher Angriff auf den später wegen Befangenheit ausgetauschten Vorsitzenden ist mithörbar. Die durchaus herablassende Art einiger Personen wirft ein unvorstellbar schlechtes Licht auf die damalige Justiz, auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Angeklagten teilweise lächerliche Weltbilder vertreten. Die Angeklagten selbst kommen nur selten zu Wort, und wenn doch, dann handelt es sich meistens um Wutausbrüche oder Geschrei. Wo sich die Angeklagten in gemäßigtem Ton ausdrücken, neigen sie zu Abschweifungen und kommunistischer Diktion. Interessant ist aber auch dabei eher die Reaktion der Anwälte und Vorsitzenden.
Als beeindruckter Hörer kann ich erahnen, was für ein historischer Meilenstein eine komplette Tonüberlieferung des Prozesses gewesen wäre.
Sittenbild der Justiz