So sehr alte Märchen, Mythen und Sagen uns faszinieren, weil sie Urbilder enthalten, die jeden Menschen etwas angehen, so fremd ist uns doch vielfach ihr Original-Erzählstil in seiner lapidaren Knappheit geworden. Einer der Gründe, warum das Genre „Fantasy“ seit etlichen Jahrzehnten blüht, ist sicherlich, dass es die Schätze, die in dieser archaischen Literatur leben, durch Nachempfinden oder Nacherzählen hebt, poliert und zum Funkeln bringt.
Die alte romantische Sage um die Wassernixe Ruma, die in der Rhumequelle im niedersächsischen Harzvorland leben soll, seit ihre Familie sie wegen ihrer Liebe zu dem Riesen Romar verstoßen hat, ist genau die Sorte Kleinod, die auf den Autor gewartet und in Melanie Buhl gefunden hat, der sie wieder zum Leuchten bringt.
Der letzte Satz des Klappentextes lautet: „Lausche dem Flüstern der Quelle und tauche ein in Rumas Geschichte …“, und ja, die traurige Geschichte von Ruma, Tochter des Zwergenkönigs und einer Nixe, ist wie dazu geschaffen, in Wassermetaphern beschrieben zu werden: Sie strömt, sie fließt, und manchmal sprudelt und strudelt sie. In jedem Fall taucht man gerne ein und schwimmt mit.
Auch wenn die Autorin an die Vorgaben der Sage gebunden war, hat sie doch weitaus mehr getan, als sie bloß auszuschmücken: Man spürt, dass sie ihrer Intuition vertraut, um das Skelett der alten Sage mit Fleisch und Blut zu umkleiden und wie mit einem Zauberstab zum Leben zu erwecken. Solche Geschichten erfindet man als Autor nicht, man lässt sie sich selbst erzählen.
Melanie Buhl beschreibt eine Welt, in der die miteinander verfeindeten Völker der Zwerge und der Riesen bis aufs Blut miteinander ringen, wobei die Menschen sich aus Furcht vor beiden fernhalten, bis die unaufhörlichen Fehden der Zwerge und Riesen (in deren Mühlsteine die unglückliche Ruma und ihr Geliebter geraten) beide Völker vernichtet haben. Auch wenn es diese Welt nie in dem Sinne gegeben hat, dass ein Archäologe irgendwann Riesen- und Zwergenknochen ausgraben wird: Die Geschichte ist auf eine Weise und auf einer Ebene wahr, die mit Historie nichts zu tun hat. Es ist die besondere Art von Wahrheit, für die Michael Ende das Bild des Reiches Phantásien gefunden hat. Es ist nicht wirklich, aber es ist wahr.
Ich selbst war noch nie an der Rhumequelle, aber sollte ich eines Tages in der Gegend sein, werde ich keinen Zweifel daran hegen, dass Ruma in ihr lebt und dass ihre Geschichte genau die ist, die Melanie Buhl so wunderbar erzählt hat.







