Cover des Buches Havarie (ISBN: 9783867542241)
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Rezension zu Havarie von Merle Kröger

Festung Europa

von Gulan vor 9 Jahren

Kurzmeinung: Eine Montage: Mittelmeer, 4 Boote, 11 Personen. Literarisches Speed-Dating, unterhaltsam, aber irgendwie ging mir alles zu schnell.

Rezension

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Gulanvor 9 Jahren

„Vorsicht, Küstenwache!“ Karim reißt das Ruder herum. Schüsse peitschen über das Meer. „Keine Angst! Das sind nur Warnschüsse!“, ruft er seinen Leuten zu. Der Cousin am Bug verschwindet im Dunkel.

Panik.

„Bruder! Wo bist du!“ […]
„Wir müssen hier weg!“
„Nein!“ Verzweiflung. Hallt durch die Nacht.
Motorengeräusche. Lichtfinger. Sie sind ganz nah.
„Da vorne!“ Abdelmjids Gesicht, direkt neben seinem eigenen. Karim lehnt sich nach links. Sieht an Abdelmjid vorbei. Eine Wand. Ihre Rettung liegt hinter dieser Wand aus Nebel. Er hält blindlings darauf zu.
Und schon tauchen Sie ein. Das Heulen des Windes stirbt einen schnellen Tod. Die Nebelgrenze wird zu einem dreidimensionalen Feld aus weißlichem Licht. Es dehnt sich aus, sehnt sich nach Unendlichkeit, leckt an den Konturen ihres kleinen Bootes.
Karim stoppt den Motor.
Keiner sagt ein Wort.
Alle denken dasselbe: Wenn er Glück hat, ziehen sie ihn rechtzeitig aus dem Wasser.
Wenn nicht...(S.12)


Das Mittelmeer zwischen Algerien und Spanien: Ein winziges Schlauchboot mit Flüchtlingen ist auf dem Weg, in die Festung Europa einzudringen. Aufgrund von Treibstoffmangel wird es manövrierunfähig. In der Nähe: Das irisches Containerschiff „Siobhan“ und das Kreuzfahrtschiff „Spirit Of Europe“. Während das Kreuzfahrtschiff dem Seerecht entsprechend auf den spanischen Seenotkreuzer „Salvamar Rosa“ wartet, geschehen auf der „Spirit Of Europe“ weitere Dinge: Der philippinische Sänger einer Bordband verschwindet spurlos, in der Wäscherei geschieht ein Unfall und der Chef der Security versucht, daraus Kapital zu schlagen.

Schon bei ihrem letzten, äußerst lesenswerten Kriminalroman „Grenzfall“ hatte sich die Autorin Merle Kröger dem Thema Flüchtlinge bzw. illegaler Grenzübertritt gewidmet. Der Roman gewann 2013 den Deutschen Krimi Preis. In ihrem neuen Buch „Havarie“ hat sie nun die Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm verarbeitet. Sie wechselt in schnellen, kurzen Kapiteln zwischen insgesamt 11 Personen in Form einer Montage. Die Handlung spielt innerhalb von zwei Tagen. Wir begleiten so unterschiedliche Personen wie Karim Yacine, algerischer Schlepper, Lalita Masarangi, Sicherheitspersonal auf der Spirit Of Europe oder Diego Martinez von der Seenotrettung in Cartagena. Das Besondere bei den Figuren: Jede der Biografien handelt in einer Form von Flucht, Exil, Trennung oder Entwurzelung. Die Kapitel sind immer mit einer der Personen überschrieben. Dabei wechselt die Erzählperspektive zwischenzeitlich von der dritten in die erste Person. Somit erfährt der Leser auch Gedankengänge, Bewusstseinsströme und innere Konflikte der Hauptfiguren.

Ich habe mich mit der Bewertung ziemlich schwer getan. Der Roman ist definitiv ein wichtiges literarisches Statement zur aktuellen Flüchtlingspolitik. Die Autorin hat sich bewusst für diese Choreographie entschieden, es erinnert mich an einen Videoclip mit schnellen Schnitten und vielen Nahaufnahmen. Die ungewöhnliche Konstellation empfand ich allerdings letztlich als zu verkopft. Man erfährt durchaus einiges von den Figuren, Ängste, Sorgen, Hintergründe. Aber alles wechselt so schnell, die einzelnen Figuren werden quasi zu Passanten. Und auch die politisch-thematischen Hintergründe der Personen waren mir manchmal einen Tick zu dozierend eingeflochten. Da geht es um nepalesische Gurkhas und ihre Rolle im britischen Empire, hinduistisch-muslimische Rassenkonflikte, den Bürgerkrieg in Syrien, Umweltverschmutzung in Spanien, die troubles in Nordirland, den Ukrainekonflikt, die Flucht aus den deutschen Ostgebieten 1945 und und und. Die Biografien sind durchaus glaubhaft und gut recherchiert, und ja, geopolitisch hängt fast alles miteinander zusammen, aber ihre schiere Anzahl auf weniger als 250 Seiten hat mich schlichtweg erschlagen. Dieses Buch war für mich eine Art literarisches Speed-Dating, unterhaltsam, anregend, aber irgendwie hätte ich mich auch gerne auf einzelne Personen näher eingelassen.

Vielleicht wurde ich hierbei aufgrund der positiven ersten Besprechungen und Vorschusslorbeeren Opfer meiner eigenen hohen Erwartungen. Ohne Frage bietet der Roman ein hohes literarisches Niveau und ein wichtiges, aktuelles politisches Thema, aber die gewählte Form der Darbietung war für mein Empfinden nicht optimal.

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