Rezension zu "Das Phantom der Oper" von Gaston Leroux
Lieben wir nicht alle Schauergeschichten: Dieses wohlige Gruseln während die Anspannung stetig steigt. Das Entgegenfiebern bis zum erlösenden Ende. Das Nachspüren der Atmosphäre, wenn uns hinterher unser Gang durch die dunkle und verdächtig stille Wohnung ins Schlafzimmer führt, und wir es uns kaum verkneifen können, einen prüfenden Blick in den Schrank und unter das Bett zu werfen…!
…dabei lässt sich DAS PHANTOM DER OPER gar nicht so leicht einer Kategorie zuordnen: Ist es nun tatsächlich eine Schauergeschichte oder vielmehr ein Kriminalroman oder doch eher ein Tatsachenbericht? Und das, wo wir Deutschen doch diese genetische Disposition haben und alles und jeden – schön geordnet – in eine Schublade stecken möchten.
Doch unabhängig vom Etikett, mit dem wir diesen Roman vielleicht nur allzu gerne schmücken würden, handelt es sich hier auch nach all den Jahren immer noch um eine spannende wie berührende Geschichte, die schon die Kreativität vieler Künstler*innen angeregt hat und nach wie vor die Leser*innen weltweit bestens unterhält.
Seit geraumer Zeit setzt ein dubioses Wesen die Direktion der Pariser Oper unter Druck und Künstler und Bühnenarbeiter in Angst und Schrecken. Er hat ganz klare Vorstellungen, wie „seine“ Oper zu führen sei, und nimmt Einfluss an der künstlerischen Arbeit des Hauses. Sollten seine Anweisungen nicht befolgt werden, geschieht Schreckliches. Zu aller Überraschung protegiert er die junge, unerfahrene Sängerin Christine Daaé, die sich dank seinem Unterricht auf der Bühne als brillante Sängerin profiliert. Doch auch Raoul, Vicomte de Chagny, ein Jugendfreund von Christine, ist von ihr entzückt. Doch die Liebe der beiden jungen Menschen bleibt dem Phantom nicht verborgen, und er setzt skrupellos alles daran, um Christine für ewig an sich zu binden…!
Abermals legt der Reclam-Verlag eine sehr hochwertige Neu-Auflage eines literarischen Klassikers vor: Da wurde auf viele Feinheiten geachtet, sei es bei der verwendeten Papierqualität, dem Druck und der Prägung bis zur sehr geschmackvollen Farbgebung in den Farben Schwarz, Weiß und Rot.
Leider haben mich ausgerechnet die Illustrationen von Michèle Ganser ein wenig enttäuscht, die als Randverzierungen in den laufenden Text eingefügt wurden. Dies wirkt beinah wie klassische Vignetten, doch anstatt Ranken gibt es Bilder von Requisiten und Dekorationsteilen zu bewundern. Diese sind durchaus sehr ansprechend und detailliert gestaltet und nehmen jeweils Bezug zur Handlung. Aber sie sind eher schmückendes Beiwerk und können für mich die ganzseitigen Illustrationen nicht ersetzen. Die einzige Illustration, die über zwei Seiten geht, ist eine Innenansicht des Zuschauersaals der Oper, die recht unspektakulär ausfällt. Unspektakulär deshalb, da eben jene Illustration bereits als Vorsatzblatt diente, bei dem nur ein paar Zuschauer*innen hinzugefügt wurden. Da konnte mich der Reclam-Verlag in der Vergangenheit mit seinen illustrierten Fassungen schon deutlich mehr überzeugt, wie z. Bsp. mit DAS BILDNIS DES DORIAN GRAY von Oscar Wilde.
Doch der größte Pluspunkt und somit die absolute Kaufempfehlung ist für mich die neue Übersetzung von Rainer Moritz. Ich habe mir (mal wieder) die Mühe gemacht und einige Passagen parallel gelesen, um so die Unterschiede der neuen zur alten Übersetzung von Johannes Piron besser nachvollziehen zu können. Pirons Übersetzung stammte aus den 60er Jahren, weißt den sprachlichen Duktus jener Zeit auf und wirkt aus heutiger Sicht ein wenig schwülstig. Auch glaubte ich bei einigen Beschreibungen einen eher negativen Unterton im Vergleich zur aktuellen Übersetzung wahrzunehmen: Da wird aus „ein Hirngespinst der Dämchen vom Corps de ballet“ (alt) zu „die unscheinbare Erfindung erregter Gehirne unter Ballettmädchen“ (neu). Zudem klingen einige Formulierungen (von „Garderobenfrauen“ zu „Garderobieren“) deutlich eleganter in meinen Ohren. Gerade beim Vorlesen klang die alte Übersetzung oftmals holpriger und kam weniger geschmeidig über meine Lippen: „Ja, es hat leibhaftig existiert, wenn es auch wie ein echtes Phantom auftrat, das heißt als Schemen.“ (alt) im Vergleich zu „Ja, es hat leibhaftig existiert, obwohl es sich in allen den Anschein eines wahren Phantoms gab, also einer Schattengestalt.“ (neu)
Alles in allem scheint die Übersetzung von Rainer Moritz fließender, klarer, beinah nüchterner zu sein und kommt damit dem Stil des Originals recht nah. Gaston Leroux, der ja nicht nur als Schriftsteller tätig war sondern auch als Journalisten arbeitete, hatte diesen Roman als eine Art Tatsachenbericht verfasst, beinah so als würde er die bei Recherchen erhaltenen Informationen zusammenfassen. Dies kam der Erstveröffentlichung als Episoden-Roman in der Zeitung Le Gaulois sehr entgegen. Zumal nicht ganz nachvollziehbar war, was der Phantasie des Autors entsprungen ist, und was auf Tatsachen beruhte. Leroux war so pfiffig, dass er sich von realen Hintergründen inspirieren ließ und die entsprechenden Fakten geschickt in seine Geschichte einbaute.
Erstmals gibt es ein unbekanntes Kapitel zu entdecken, das von Leroux, nachdem die Geschichte erstmals in der Zeitung erschien, gestrichen wurde. Er empfand dieses Kapitel als nicht relevant genug für den Fortgang der Handlung. Tatsächlich ist es nun nicht so, dass mir als Leser ohne dieses Kapitel signifikante Sachverhalte fehlen würden. Trotzdem war es eine Freude, jenes Kapitel zu lesen, da der Autor sowohl Handlung wie Personen in seinem herrlich skurrilem Humor beschreibt und somit sehr zu meiner Erheiterung beitrug.
Abermals überzeugt der Reclam-Verlag mit der geschmackvollen Umsetzung einer beliebten Geschichte – nur als „illustrierte Fassung“ würde ich sie nun nicht unbedingt anpreisen.