Seit gut 25 Jahren boomt die Erforschung des napoleonischen Zeitalters. Die Geschichtswissenschaft hat die traditionelle Fixierung auf Napoleon überwunden und ihren Blickwinkel erweitert. Napoleons Herrschaft war kein rein französisches, sondern ein europäisches Phänomen. Inzwischen liegen zahlreiche Studien zur Geschichte West-, Mittel- und Südeuropas im Zeitalter der französischen Hegemonie vor. Überblicksdarstellungen, die den Forschungsstand zusammenfassen, ermöglichen den Einstieg in dieses anspruchsvolle und zugleich faszinierende Thema. Deutsche Leser haben es jedoch schwer, geeignete Einstiegslektüre zu finden. Ist es schon bedauerlich, dass deutsche Historiker vergleichsweise wenig zur Erforschung des napoleonischen Zeitalters beitragen, so ist es nachgerade ärgerlich, dass sich bisher kein deutscher Autor gefunden hat, der die Ergebnisse der internationalen Forschung bündelt und Studierenden und historisch interessierten Laien zugänglich macht. Wer sich als Deutscher mit dem napoleonischen Imperium befassen möchte, der muss notgedrungen auf Werke in englischer oder französischer Sprache zurückgreifen. Mehrere Bücher stehen zur Auswahl. Am aktuellsten ist das Buch "Europe under Napoleon" aus der Feder des britischen Historikers Michael Broers (2015). Es bildet den gegenwärtigen Forschungsstand ab und verdient daher den Vorzug gegenüber den schon etwas älteren Werken von Annie Jourdan (2000), Geoffrey Ellis (2003) und Alexander Grab (2003). Broers gehört zu den bekanntesten Experten für die Geschichte der napoleonischen Zeit. Er hat sich vor allem um die Erforschung der französischen Herrschaft in Oberitalien verdient gemacht. Seit einigen Jahren arbeitet er an einer großen Napoleon-Biographie, von der bislang zwei Bände erschienen sind. Broers' Bücher sind allesamt Standardwerke. An ihnen kommt niemand vorbei, der sich vertiefend mit Napoleon und dem napoleonischen Zeitalter beschäftigen möchte. Das gilt auch und gerade für "Europe under Napoleon".
Das Buch behandelt den Zeitraum vom Beginn des Konsulats 1799 bis zu Napoleons erster Abdankung 1814. Broers nimmt alle Staaten und Regionen Europas in den Blick, die Napoleon direkt oder indirekt beherrschte. Kerngebiet des napoleonischen Herrschaftsbereiches war das sogenannte innere Imperium. Es umfasste Frankreich selbst (einschließlich Belgiens und der linksrheinischen Gebiete), Holland, die Rheinbundstaaten, das Königreich Westfalen und das Königreich Italien. Um die Kontinentalsperre gegen Großbritannien besser durchsetzen zu können, erweiterte Napoleon ab 1808 sein Herrschaftsgebiet um das sogenannte äußere Imperium: Norddeutschland und die Hansestädte, Spanien, Mittelitalien (Toskana, Kirchenstaat) und die Illyrischen Provinzen (Westbalkan). In seiner Eigenschaft als Satellitenstaat findet auch das Großherzogtum Warschau Berücksichtigung. Broers zeigt Napoleon nicht als größenwahnsinnigen Abenteurer, Eroberer und Tyrannen, sondern als Erben der Französischen Revolution, und das im buchstäblichen Sinne. Als der Korse im November 1799 an die Macht gelangte, erbte er zwei "Projekte" von den revolutionären Vorgängerregierungen: Die territoriale Expansion Frankreichs bis zu den "natürlichen Grenzen" zum einen, zum anderen die Verbreitung der Revolution in Europa. Napoleon, seine Generäle und seine zivilen Mitstreiter, allesamt Kinder der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, waren inbrünstig davon überzeugt, dass die Werte und Errungenschaften der Französischen Revolution universelle Gültigkeit besaßen. Kulturelle Arroganz war die Triebfeder des französischen Imperialismus, der nach den Rückschlägen der späten 1790er Jahre unter Napoleon erneut in die Offensive ging. Im Windschatten der französischen Armeen machte sich ein Heer von reformwütigen Bürokraten daran, Europa umzugestalten. Den verbündeten oder unterworfenen Staaten und Völkern sollten die vermeintlichen Segnungen des französischen Gesellschaftmodells zuteil werden: Eine moderne Verwaltung, ein rational gestaltetes Rechtswesen und Steuersystem, die Wehrpflicht und zu guter letzt die Marginalisierung der Kirche im öffentlichen Leben.
Broers schildert, wie sich das napoleonische Regime in Frankreich konsolidierte und wie es immer größere und fernere Teile des Kontinents in seinen Bannkreis zog. Der Entstehung des Imperiums lag kein Masterplan zugrunde. Napoleons Siege auf den Schlachtfeldern Europas lösten unvorhergesehene "Wachstumsschübe" aus. Die Überdehnung des Imperiums ab 1808 war den Zwängen geschuldet, die sich aus dem Wirtschaftskrieg gegen Großbritannien ergaben. Broers betont immer wieder, dass die schrittweise Ausdehnung des Imperiums kein Selbstzweck war und nicht auf sinnloser Eroberungslust beruhte. Der Kaiser und seine Beamten hatten eine Mission – die umfassende Modernisierung aller Staaten und Regionen im französischen Herrschafts- und Einflussbereich. Aus Sicht der Franzosen waren die Völker Europas gefangen in rückständigen, wenn nicht gar barbarischen Verhältnissen. Sie mussten aus ihrem Elend "befreit" und auf das Zivilisationsniveau emporgehoben werden, das die Franzosen dank Aufklärung und Revolution erreicht hatten. Doch wie reagierten Deutsche, Italiener und Spanier auf den kulturellen Imperialismus der Franzosen? Broers untersucht, welche gesellschaftlichen Kräfte mit den Franzosen kollaborierten, welche sozialen Gruppen Widerstand leisteten, welche Motive und Interessen dabei im Spiel waren. Eloquent und mit Nachdruck formuliert Broers seine Hauptthese: Nicht verletztes Nationalgefühl war die Triebkraft des Widerstandes gegen Napoleon, wie patriotisch gesinnte Historiker seit dem späten 19. Jahrhundert behaupteten. Die Völker Europas lehnten sich vielmehr gegen den modernen Staat und seine Zumutungen auf. Sie wünschten sich den Staat des Ancien Régime zurück, einen schwachen Staat, der die Bürger nicht mit Vorschriften gängelte, niedrige Steuern erhob und keine Rekruten verlangte. Besonders erbost reagierten Nichtfranzosen auf alle Bemühungen, den Geltungsbereich des Konkordats auszuweiten, das Napoleon 1801 mit dem Papst geschlossen hatte. Italiener und Spanier sahen in den Bestimmungen des Konkordats einen Angriff auf ihr angestammtes religiöses Leben, und sie setzten sich zur Wehr, zur Verwunderung und Empörung der Franzosen.
Die große Stärke des Buches besteht darin, dass Broers Herrscher und Beherrschte gleichermaßen in den Blick nimmt. Er verknüpft das militärische und diplomatische Geschehen zwischen 1799 und 1814 mit der Entwicklung der inneren Zustände im napoleonischen Großreich. Es entsteht ein differenziertes, nuanciertes Bild. Das Großreich war kein Monolith. In weiten Teilen des inneren Imperiums war das Regime gefestigt und gut verankert, als der Kaiser 1812 nach Russland aufbrach. Doch an den Rändern, vor allem in Spanien sowie in Mittel- und Süditalien, war die Herrschaft der Franzosen prekär und brüchig. Broers arbeitet heraus, warum das Regime in manchen Regionen erfolgreich war, in anderen aber scheiterte. Sogar in Frankreich selbst war die Loyalität der einzelnen Landesteile gegenüber dem Regime unterschiedlich stark ausgeprägt. Napoleon verlor seinen Thron, doch sein politisches Werk lebte fort, sowohl inner- als auch außerhalb Frankreichs. Eine Rückkehr zum Ancien Régime war 1814/15 nicht möglich. Der moderne Staat mit seinen Beamten und Gesetzen verschwand nicht wieder aus dem Alltagsleben der Völker West- und Mitteleuropas. Broers verweist auf die Holländer, die nach Napoleons Untergang bewusst entschieden, die französisch geprägten Verwaltungsstrukturen beizubehalten. Napoleon war kein "Einzeltäter". Das ist eine der wichtigen Einsichten, die Michael Broers in seinem Buch vermittelt. Der Versuch, Frankreich und Europa zu modernisieren, war ein Gemeinschaftsprojekt. Hinter Napoleon stand eine ganze Generation von Politikern und Beamten, die in Frankreichs Hegemonie über Europa die Chance sah, den Prinzipien der Aufklärung überall zum Sieg zu verhelfen, notfalls mit Druck, Zwang, Gewalt. In der Ausbreitung des napoleonischen Systems erlebte der aufgeklärte Absolutismus des 18. Jahrhunderts seinen letzten Höhepunkt und zugleich seine Übersteigerung. Das Buch von Michael Broers ist eine unbedingt lesenswerte Ergänzung zu konventionellen Napoleon-Biographien. Wer das Buch gelesen hat, der wird den Kaiser und sein Großreich mit anderen Augen betrachten.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Mai 2018 bei Amazon gepostet)