Cover des Buches Abendland (ISBN: 9783446209138)
HeikeGs avatar
Rezension zu Abendland von Michael Köhlmeier

Rezension zu "Abendland" von Michael Köhlmeier

von HeikeG vor 16 Jahren

Kurzmeinung: "Abendland" ist ein Roman über das Leben und den Tod, über Schuld und Sühne, über Krieg und Frieden, über Männer und Frauen, Väter und Söhne...

Rezension

HeikeGs avatar
HeikeGvor 16 Jahren
Köhlmeiers "Korrekturen" - Doppelkonferenz auf „abendländischem“ Jahrhundertflug - . "Wann ist eine Geschichte eine gute Geschichte?" sinniert der 95jährige Protagonist in Michael Köhlmeiers Roman und bedient sich dabei Aristoteles: "Wenn sie gebaut ist wie ein Leben." Abendland ist mehr: Die Fülle eines ganzen Jahrhunderts ist hier eingefangen. . Er wäre ein würdiger Buchpreisträger gewesen. Nicht, dass man Julia Francks Leistung schmälern möchte, aber Michael Köhlmeiers Opus Magnum besticht in einer Ernsthaftigkeit und Tiefe, wie sie der deutschsprachige Roman im Allgemeinen und der österreichische im Besonderen lange nicht geboten haben und der nicht nur an die alten Erzähltraditionen Europas anknüpft, sondern zweifelsohne im gleichen Atemzug mit den großen amerikanischen Familienromanen eines Jonathan Franzen ("Korrekturen") oder Richard Powers ("Klang der Zeit") genannt werden kann. . Mit Abendland hat der 58jährige österreichische Schriftsteller ein Monumentalkunstwerk erschaffen. Monumental, auf Grund seiner Stoffdichte und der beinahe 800 eng gesetzten Seiten und Kunstwerk, wegen seiner klugen und raffinierten Vernetzung zweier Familienbiografien und unzähliger Einzelschicksale über einen Zeitraum eines ganzen Jahrhundert: eine literarische Weltumrundung. . Im Handlungsmittelpunkt steht der 95jährige Carl Jacob Candoris, Professor für Mathematik, Kosmopolit und Jazz-Liebhaber. Er diktiert - den nahen Tod bereits vor Augen - seinem Patenkind und Freund, dem 52jährigen Schriftsteller Sebastian Lukasser, seine Lebenserinnerungen, die sich schon bald als eine Art Lebensbeichte herauskristallisieren. Lukasser soll daraus ein Buch formen, um etwas von Candoris für die Nachwelt zu hinterlassen. "Am Ende seines langen Lebens will er dem langen Leben den lebenslang vermissten Sinn geben, indem er es zu einer großen Symphonie verkomponiert, besser: zu einer Oper.", wie Sebastian diese "geplante Inszenierung" bezeichnet. . Ein Jahr nach dem Tod von Carl beginnt Sebastian, seine Aufzeichnungen und Mitschnitte zu ordnen. An diesem Ordnen und Analysieren lässt er den Leser teilhaben. Dabei greift Sebastian diese Inszenierung immer mehr selbst auf, um gleichfalls sein Leben zu resümieren, frei nach Carls Motto: "Welchen Wert das Leben eines Menschen hatte, zeigt sich in dem Wert, den jene, die seinem Leben Wert gaben, ihm in ihrem eigenen Leben weiterhin beimessen." So nimmt nach und nach das Leben der Familie Lukasser mehr Raum im Roman ein. Candoris bleibt jedoch uneingeschränkt verbindendes Element der Erzählung. . "Für uns war das Leben eine andauernde Aufeinanderfolge von Problemen; er bot die Lösungen an.", stellt Sebastian im Nachhinein fest. Der aus vermögendem Haus stammende Candoris entdeckt im Nachkriegs-Wien Sebastians Vater, den zum Alkoholismus neigenden, begnadeten Jazz-Gitarristen Georg Lukasser und nimmt ihn fortan unter seine Fittiche. Candoris und seine portugiesische Frau Margarida werden gleichsam zu Schutzengeln der Familie Lukasser. . Aus verschiedenen Ich-Perspektiven bekommt der Leser Teile der Biografien der Protagonisten realistisch, jedoch nicht chronologisch, erzählt. Köhlmeier nimmt mitunter erst nach 400 Seiten einen zuvor ausgeworfenen Gedankensplitter wieder auf. Trotzdem verliert sich der so genannte rote Faden niemals. Geschickt und vortrefflich behandelt er die verschiedenen Zeitebenen, die kunstvolle Verknüpfung von Vor- und Rückblenden und das narrative Gesamtkonzept des Werks, welches eine Menge von Handlungsebenen überblicken muss. . Allerdings erfordert die Lektüre erhöhte Lese-Konzentration, bei gleichzeitiger Nonchalance. Es empfiehlt sich, in dieses Buch hineinzugleiten. Abendland ist ständig im Fluss, bewegt und unstet; beinahe so, als wenn ein impressionistisches Landschaftsbild von Renoir, mit seiner transparenten Farbigkeit und beruhigenden Strahlkraft, direkt neben dem, in schwarz-weiß gehaltenen, fotorealistischen RAF-Zyklus von Gerhard Richter platziert wäre, dessen erregende Aktivität geradlinig auf den Betrachter übergeht. Gleichwohl strahlt Köhlmeiers literarische Melange, diese wilde, nicht homogene Mischung, durchaus eine ergänzende Harmonie aus. . Die Erzählweise ist ein sich ständiges Erinnern und entspricht am ehesten unseren eigenen Gedanken, die ebenfalls ständig im Fluss und niemals linear sind. Köhlmeier lässt den alten Candoris wunderbar über diese Gedankenmäander sinnieren: "Die Erinnerung beschreibt einen denkwürdigen Kreis, der sich von der Gegenwart in die Vergangenheit dreht, bis er die 180 Grad erreicht, also sozusagen in der Gegenwart desjenigen ankommt, an den erinnert werden soll, gleich darauf aber in die Zukunft wechselt, weil die Erinnerung immer auch die Reflexion des Sicherinnernden über sich selbst mit einschließt, er sich also sagt, so, wie ich mich jetzt an diesen erinnere, werde ich mich eines Tages an mich selbst erinnern, nämlich, dass ich einst der war, der ich jetzt bin - womit er aber bereits in der Vorzukunft, im futurum exactum, angekommen ist, also bei 270 Grad, wo sich der Kreis zum Ausgangspunkt zurückkrümmt. Die Erinnerung sei wie die Treppe der Mönche auf dem Bild des Maurits Cornelis Escher, die immer nach oben - oder nach unten - führt, in Wahrheit aber nie die Ebene verlässt, weswegen dieser Zustand irreal und irrational sei, in seiner Wirkung jedoch ungeheuer mächtig." . Anhand dieser Sätze wird klar, Abendland kann und darf nicht in einem Ruck durchgelesen werden. Es ist zu komplex und zu vielschichtig, obwohl es einen steten, imaginären Sog auf den Leser ausübt, der diesem unweigerlich verfällt. . Dabei verwebt Köhlmeier viel Autobiografisches in seine beiden Hauptprotagonisten. So wie auch er Mathematik studierte, hat er den Part des Mathematikers an Candoris vergeben. Obwohl diese Figur gleichsam eine kleine Hommage an den Innsbrucker Mathematiker Leopold Vietoris ist, der 111 Jahre alt wurde. Das meiste von ihm selbst ist zweifelsohne in Sebastian Lukasser zu finden, allerdings nicht biografischer Art, wie der Autor erklärt. . Der Roman erzählt sowohl das Leben des Carl Candoris als auch das von Sebastian Lukasser, mit einer großen Zahl an Nebenfiguren: allesamt großartige Charakterstudien. Dieses Leben spielt sich zu wichtigen Teilen in Wien und Manhattan ab. Es ist sehr viel von Jazz und einiges von Mathematik und Atomphysik die Rede. Doch was bereits der Titel erahnen lässt, bewegt sich das Buch nicht nur in der kleinen Zelle der Familie mit all ihren komplizierten Verstrickungen, sondern Köhlmeier spannt den Bogen weitaus größer. . "Abendland" zeigt das Abendland in all seinen Varianten und vielen politischen Wechselbädern: Monarchie, Diktatur und Republik, Kirche und Agnostiker, Heiligsprechung und Suizid, Genozid der Hereros in Deutsch-Südwestafrika, das stalinistische Moskau, englische Geheimdienstaktionen, Oppenheimers "Manhattan Project" und die Atombombe, den Nürnberger Prozess, eine tragische New Yorker "Weiß-Schwarz-Beziehung" und eine Auszeit in North Dakota, die Musikszene und die deutsche Studentenszenerie, RAF und Psychoanalytisches im Wiener Kaffeehaus Der Autor lässt seine Protagonisten durch die gesamte Welt, über alle Kontinente mäandern. Grauen erzeugende Namen wie Salazar, Stalin und Hitler kreuzen ihre Bahnen genauso wie berühmte Wissenschaftler (Einstein, die Mathematikerin Emmy Noether, Manfred von Ardenne, Niels Bohr, Otto Hahn) oder bekannte Musikgrößen (Duke Ellington, Billie Holiday). . Köhlmeier setzt viele Farbtupfer, die am Ende ein beeindruckendes Gemälde ergeben: Eine gewaltige, weit umspannende Melange, in Komposition, Stil und dichter Atmosphäre, die bis zur letzten Zeile überzeugt. Zwischen Wien, wo Lukasser lebt, und Lans (oberhalb von Innsbruck), wo Candoris seine letzten Lebensjahre verbrachte, liegt eine ganze (Erzähl-)Welt und ein außerordentliches Lesevergnügen für viele Abende. Es gibt nicht allzu viele Romane, die einen solchen Eindruck hinterlassen. . Fazit: Abendland ist ein Roman über das Leben und den Tod, über Schuld und Sühne, über Krieg und Frieden, über Männer und Frauen, Väter und Söhne, Musik und Mathematik während eines Streifzuges durch das letzte Jahrhundert. Es ist ein äußerst weises, intelligentes, wissenswert-philosophisches und unterhaltsames Buch, voller Detailwissen und Bildung, das nur so vor sprachlicher Eleganz und Lebensklugheit funkelt. . Ein ganz großes Stück Literatur und ein wahrer Genuss für anspruchsvolle Leser: DAS Buch 2007!
Angehängte Bücher und Autor*innen einblenden (2)

Was ist LovelyBooks?

Über Bücher redet man gerne, empfiehlt sie seinen Freund*innen und Bekannten oder kritisiert sie, wenn sie einem nicht gefallen haben. LovelyBooks ist der Ort im Internet, an dem all das möglich ist - die Heimat für Buchliebhaber*innen und Lesebegeisterte. Schön, dass du hier bist!

Mehr Infos

Hol dir mehr von LovelyBooks