Cover des Buches Zwei Herren am Strand (ISBN: 9783446246034)
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Rezension zu Zwei Herren am Strand von Michael Köhlmeier

Ungewöhnliche Erzählung über Depression, Kreativität und ganz große Männer

von MareikeHerzpotenzial vor 9 Jahren

Rezension

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MareikeHerzpotenzialvor 9 Jahren

Was für eine Vorstellung: Charlie Chaplin spaziert gemütlich mit Winston Churchill am Strand entlang. Sie erzählen sich intime Dinge, abseits von Politik und Showbiz. Sie sprechen über ihre Ängste und ihre immer wieder auftretenden Depressionen. Churchill spricht von einem großen schwarzen Hund, der ihn angreift und sich festbeißt – und keiner versteht dieses Bild für eine niederschmetternde Depression besser als Chaplin. Auch er hat seit seiner Kindheit immer wieder mit Selbstmordgedanken zu kämpfen, muss sich mit seinem filmischen Schaffen immer wieder der brutalen Kritik der Öffentlichkeit stellen und zerbricht fast daran. Churchill trägt die Last eines großen Namens und eines ganzen Landes auf seinen Schultern. Der Zweite Weltkrieg deutet sich bereits bei ihrem ersten gemeinsamen Gespräch an. Zwei Männer mit großer öffentlicher Präsenz, die in ihren Karrieren immer wieder – mal überraschend, mal lange angedeutet – mit Depressionen und Selbstmordgedanken kämpfen.
Mit einer zufälligen Begegnung auf einer Party in Hollywood beginnen die gemeinsamen Spaziergänge und die gegenseitigen Offenbarungen. Die beiden Männer erkennen sofort das ähnliche Gemüt im anderen, dass der Schwarze Hund sie beide besucht und sie ihr Leben lang begleitet.

Michael Kohlmeier hat ein spannendes Setting gewählt. Ich musste dieses Buch einfach lesen, denn beide Männer sind in meiner Vorstellung so verschieden, dass ich mir nicht recht vorstellen konnte, wie ein Treffen der beiden ohne politische Gespräche auskommen sollte. Ich wurde überrascht, denn die Depression und der Todesgedanke verbindet die beiden so tief, dass sie über viele Jahre miteinander in Kontakt bleiben und sofort zur Stelle sind, wenn der eine den anderen braucht.
Die Gespräche sind ruhig und behutsam. Man spürt die Kreativität und Kraft, die die beiden Männer aus den Austausch schöpfen. So entstehen einige wichtige Szenen von Chaplins Filmen aus Denkanstößen dieser Unterhaltungen. Dass Churchill ein sehr kreativer Mensch war, wird an vielen Stellen deutlich – nicht zuletzt weil die Staffelei seine letzte Bastion vor dem Schwarzen Hund zu sein scheint. Hier findet ihn Chaplin, fast manisch konzentriert auf seine Farben. Das Gegenstück ist Chaplins Schneideraum, in dem er verzweifelt versucht seinen Filmen neue Bedeutungen zu geben, Entscheidungen zurückzunehmen und der Künstler zu werden, der vom Publikum und der Kritik gefeiert wird.
Kunst, Komik, Weltsicht und Respekt sind wichtige Themen, die
Die eigentliche Handlung wird nach und nach aus den Dokumenten und Erzählungen rekonstruiert, die der Vater des Erzählers gesammelt hat, aus bekannten Interviews und Biografien. Man meint, ein weiteres Zeitdokument in den Händen zu halten, so geschickt werden Fiktion und Fakten hier verwoben. Der Erzähler selbst tritt immer mal wieder mit seiner eigenen Biografie in Erscheinung, besonders gegen Ende, wenn über eine Clownschule berichtet wird – ein Abschnitt, der meiner Meinung nach nicht die abrundende Wirkung hat, die er vermutlich haben soll. Insgesamt hat mich die etwas wirre Konstruktion um den Erzähler und seine Verbindung zu Chaplin/Churchill durchgängig gestört. Der neutrale, faktenorientierte Erzählton wird durch emotionalisierende persönliche Erinnerungen an die eigene Vater-Sohn-Beziehung durchbrochen. Die Verbindung der beiden Erzählebenen gelingt nicht vollständig, der Vater-Sohn-Vergleich hinkt und die Verbindungen bemüht. Die Geschichte hätte auch ohne diese Ebene funktioniert. Sie wäre auch ohne diese Extraportion Rührigkeit ein berührendes, elegantes und gelungenes Werk über zwei besondere Männer gewesen.

Fazit: Eine ungewöhnliche Geschichte über zwei Männer, die ihre Dekade geprägt haben. Verbunden durch eine sensible Freundschaft und den Kampf gegen die eigenen Geister findet der Autor nicht den richtigen Ton für ein vollends stimmiges Leseerlebnis.

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