Cover des Buches Karlmann (ISBN: 9783421054593)
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Rezension zu Karlmann von Michael Kleeberg

Rezension zu "Karlmann" von Michael Kleeberg

von HeikeG vor 16 Jahren

Rezension

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HeikeGvor 16 Jahren
Menschliche Enttäuschungen Michael Kleeberg zeichnet ein Kaleidoskop von Bildern und Gefühlen und skizziert großartig die letzten fünf Jahre vor der Wiedervereinigung der Deutschen. Als menschlichen Vertreter wählt er einen nicht gerade helden-, vielleicht aber beispielhaften Hamburger. "Wo entspringt diese ungeheute Zuversicht, die sich durch den Bildschirm hindurch auf dich überträgt und fortpflanzt: Es kann nichts passieren. Es kann nichts schief gehen.", so sinniert der 25jährige Karlmann "Charly" Renn am 07. Juli 1985, seinem Hochzeitstag, als er am Fernseher den Sieg des 17-jährigen Boris Beckers im Grand-Slam-Finale in Wimbledon erlebt. Er, Spross alten und reichen Hamburger Bürgertums und Geldadels, hat heute seine Traumfrau Christine geheiratet, steht kurz vor seinem Examen und "der Alte" (sein Vater) schenkt ihm zur Hochzeit doch glatt ein eigenes Autohaus. Dieser denkwürdige Tag könnte der Beginn einer wunderbaren Geschichte werden. Könnte..., denn gerade am Biss des Ausnahmesportlers Becker mangelt es dem Protagonisten. Bereits während der abendlichen Feierlichkeiten treibt es ihn ohne Not in die Arme bzw. zwischen die Schenkel der Brautjungfer. Der Weg scheint vorgezeichnet, denn was so beginnt kann eigentlich auch nicht gut enden. Er findet keine Befriedigung in seinem Job, außer kurzen onanistischen Spannungsentladungen am Abend im Büro oder bei regelmäßigen Besuchen einer ehemaligen Klassenkameradin, mit der er seine animalischen und sadomasochistischen Gelüste auslebt. So treibt bzw. lässt sich Charly treiben, verliert all seine hochfliegenden Pläne und hat am Ende kaum noch etwas Boris Becker-haftes an sich. Kapitel für Kapitel - der Roman hält fünf davon bereit, die jeweils einige Stunden eines herausgehobenen Tags der Jahre 1985 bis 1989 erzählen - wird aus dem einstmals hoch motivierten Bräutigam ein gewöhnlicher Durchschnittsehemann, dessen heile Welt schlussendlich in Trümmern liegt. Die mit seinem "Schicksal" vergleichbare und zeitgleiche Entwicklung der zu Ende gehenden alten Bundesrepublik nimmt er dabei kaum wahr, geschweige denn weiß er sie zu wichten. So weit, so wenig aufregend, meint man. Doch "Karlmann" ist messerscharfe Analytik, und wie Kleeberg die Geschichte präsentiert, lässt garantiert keine Langeweile aufkommen. Verblüffend virtuos spielt der Autor mit der Zeit, hält sie an, schweift aus, dehnt und staucht sie. Sei es nun der Protagonist selbst oder seine Heimatstadt Hamburg, die männliche Psyche, der städtische Alltag, Familie und Gesellschaft, Geschäft und Politik, der Autor seziert alles mit enormer Tiefenschärfe. Dabei verlangt er dem Leser einiges ab. Kleeberg hat ein "Erzählplasma" geschaffen. Teilweise mitten im Satz wechselt der Roman die Perspektive: vom "Du" in die 3. und von Zeit zu Zeit auch die erste Person Singular. Allein mit dieser multiplen Erzählweise ist es noch nicht abgetan. Auch die Sprachebenen wirbeln wild durcheinander; pornografische Phantasien stehen neben hoch reflektierenden Betrachtungen. Michael Kleeberg offenbart eine ungemein reiche Palette literarischer Farbgebungen und stilistischer Nuancierungen: kühle, ironische Beschreibung wechseln sich mit emphatischer oder empfindsamer Anteilnahme für tragische Momente im Leben des Protagonisten ab. Der Autor betreibt satirische Analyse genauso wie pointierte Komik. Alles in allem eine wohldosierte Melange aus intellektueller und poetischer Prosa in fünf Kapiteln, die die fünf Konstanten im Lebens eines Mannes abhandeln: Liebe (Kap.1), Arbeit (Kap.2), Sex (Kap.3), Macht (Kap.4) und Hoffnung (Kap.5). Fazit: Von den Höhen und Tiefen im Leben eines "guten Durchschnittsmannes" erzählt Kleeberg ausgesprochen gekonnt und entwickelt dabei einen furiosen Zeit- und Gesellschaftsroman. "Karlmann" ist ein außerordentliches und intellektuelles Leseabenteuer, ein wuchtiger Roman über die Schwierigkeiten, ein Gleichgewicht zwischen der eigenen Person und den anderen zu finden. Ein Buch, in das man(n und Frau) eintaucht, um am Ende erkenntnisreicher zu entsteigen.
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