Rezension zu "Dance of the Furies: Europe and the Outbreak of World War I" von Michael S. Neiberg
Andreas_OberenderFür gewöhnlich wird der Ausbruch des Ersten Weltkrieges aus der Perspektive von Politikern, Diplomaten und Militärs geschildert. Der amerikanische Historiker Michael Neiberg hat für sein Buch einen anderen Blickwinkel gewählt. Die Entscheidungsträger rücken in den Hintergrund, und stattdessen geht Neiberg der Frage nach, wie die Bürger der europäischen Staaten die Juli-Krise, den Beginn des Krieges und die ersten Kriegsmonate erlebten. Neiberg stützt sich dabei auf Briefe, Tagebücher sowie Erinnerungen, die nach Kriegsende entstanden. Außerdem hat er die zeitgenössische Presse gesichtet. Das Gros der Personen, die der Autor zu Wort kommen lässt, stammt aus dem Deutschen Reich, Frankreich und Großbritannien. Hinzu kommen einzelne Österreicher und Russen sowie einige in Europa lebende Amerikaner. Manche von Neibergs Protagonisten sind bekannt (z.B. Sigmund Freud, H.G. Wells, André Gide), doch bei den meisten handelt es sich um "Durchschnittsbürger". Ob prominent oder nicht: Allen Akteuren ist eine Eigenschaft gemeinsam - sie hatten keinen Einfluss auf das politische und diplomatische Geschehen und waren den Entscheidungen der Politiker und Militärs hilflos ausgeliefert.
Neiberg hebt eine Tatsache hervor, die nicht genug betont werden kann: Der Erste Weltkrieg begann wie die Kabinettskriege des 18. und 19. Jahrhunderts. Er wurde von kleinen Zirkeln politischer und militärischer Entscheidungsträger beschlossen, ohne nennenswerte Konsultation mit Parlamenten, Parteien, Gewerkschaften oder der Wirtschaft. Er war kein "Volkskrieg" und wurde nicht durch überschäumende nationale Ressentiments ausgelöst. Neiberg ist der Ansicht, dass Nationalismus, Chauvinismus und Revanchismus als kriegsauslösende Faktoren nur eine untergeordnete Rolle gespielt hätten. Er plädiert dafür, die im Weltkrieg entstandenen nationalen Ressentiments nicht in die Zeit vor 1914 zurückzuprojizieren. Deutsche, Franzosen und Briten hätten sich ungeachtet außenpolitischer Rivalitäten und Spannungen als Glieder der europäischen Völkerfamilie und Teilhaber einer gemeinsamen Kultur verstanden.
Eingangs zeigt Neiberg, wie hoch in allen europäischen Staaten das Vertrauen in die Diplomatie war. Grenzübergreifend waren die Bürger der Meinung, dass jede noch so ernste außenpolitische Krise durch Verhandlungen friedlich beigelegt werden könne, wie sich am Beispiel der beiden Marokko-Krisen gezeigt hatte. Ein großer Krieg aller gegen alle schien undenkbar. Europas Bürger fühlten sich sicher. Von den endlosen Wirren auf dem Balkan schien keine Gefahr für den "zivilisierten" Teil des Kontinents auszugehen. Die sozialistischen Parteien, denen Neiberg breiten Raum widmet, sahen sich als Garanten des Friedens. Gegen den Willen des Proletariats, so der französische Sozialistenführer Jean Jaurès, sei kein großer europäischer Krieg möglich. Im Ernstfall würde ein europaweiter Generalstreik die Politiker und Militärs zur Besinnung bringen.
Das Attentat von Sarajevo löste in keinem europäischen Staat nennenswerte Besorgnis aus, nicht einmal in Österreich-Ungarn, wo kaum jemand dem unbeliebten Thronfolger Franz Ferdinand nachtrauerte. Wie Neiberg anhand zahlreicher Beispiele zeigt, vermochte sich wochenlang niemand vorzustellen, dass das Attentat zu einem Krieg führen könnte. In allen Staaten zeigten sich Presse und Öffentlichkeit zuversichtlich, Österreich-Ungarn werde maßvoll und im Einklang mit etablierten Spielregeln gegen Serbien vorgehen. Niemand ahnte, dass die Wiener Führung entschlossen war, sich über diese Spielregeln hinwegzusetzen und mit Serbien abzurechnen. Die rasche Zuspitzung der Krise Ende Juli traf die ahnungslosen Gesellschaften Österreich-Ungarns, Deutschlands, Russlands, Frankreichs und Großbritanniens vollkommen unvorbereitet. Die Ereignisse überschlugen sich, und binnen weniger Tage war der Krieg aller gegen alle da.
Für einfache Bürger war nicht nachzuvollziehen, wie es so weit hatte kommen können. Neiberg zeigt, dass viele Brief- und Tagebuchschreiber in ihrer Hilflosigkeit zu den gleichen Metaphern griffen: Sie verglichen den Kriegsausbruch mit einer plötzlich eintretenden Naturkatastrophe, die sich rationalen Erklärungsmustern entzog. Die zum Krieg führenden Entscheidungsprozesse in den Hauptstädten blieben für die Bürger undurchschaubar. Gerade viele Briten hatten kein Verständnis für den Kriegseintritt ihres Landes. Deutsche Soldaten verstanden nicht, warum sie Belgien besetzen mussten, obwohl doch Russland als Hauptfeind galt. Russischen Bauernsoldaten wiederum war schwer zu erklären, dass sie zum Schutz Serbiens ins Feld ziehen sollten, eines Landes, von dem sie noch nie gehört hatten.
In den Kapiteln 5 bis 8 untersucht Neiberg, wie die Bürger der kriegführenden Staaten die ersten Monate des Krieges erlebten. Mehrere Motive stehen dabei im Mittelpunkt. Wie viele andere Historiker betont Neiberg, dass es im August 1914 keine überschwängliche Kriegsbegeisterung gegeben habe. Die Soldaten und die Menschen an den Heimatfronten hätten die Kriegsanstrengungen nicht enthusiastisch, aber doch willig und entschlossen auf sich genommen, weil sie glaubten, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Den Bürgern ging es nicht um Eroberungen und schon gar nicht um die Vernichtung der gegnerischen Staaten, sondern um die Verteidigung der Heimat. Die Regierungen aller Staaten verstanden es geschickt, das jeweils eigene Land als Opfer fremder Aggression darzustellen, die es abzuwehren gelte. Gegenüber den Bürgern ließ sich der Krieg nur als Verteidigungskrieg rechtfertigen. Im Angesicht der Bedrohung war nationale Einigkeit das Gebot der Stunde. Für die sozialistischen Parteien war es eine ernüchternde und deprimierende Erfahrung, dass sie mit ihrer Rhetorik des Pazifismus und Internationalismus den Krieg nicht verhindern konnten.
Weitere Aspekte, die Neiberg behandelt, sind die bald nach Kriegsbeginn einsetzende Mangelwirtschaft, die große Erschütterung über die enormen Verlustzahlen, die wachsende Unzufriedenheit der Bürger über die manipulative Informationspolitik ihrer Regierungen, die Entstehung und propagandistische Verbreitung neuartiger Feindbilder. Anhand der Briefe und Tagebücher, aus denen er zitiert, kann Neiberg anschaulich zeigen, dass die Erfahrungen der ersten Kriegsmonate sowohl einzelne Menschen als auch ganze Gesellschaften mental überforderten. Der Krieg war anders, als die Menschen ihn sich vorgestellt hatten. Er dauerte länger und forderte mehr Opfer, als im August angenommen. Bis Weihnachten 1914 stellte sich dann so etwas wie Normalisierung und Gewöhnung ein. Angesichts des Stellungskrieges im Westen, mit dem niemand gerechnet hatte, herrschte jedoch einmal mehr Ratlosigkeit. Wie sollte es militärisch weitergehen? Wie konnte der Sieg errungen werden? Darauf gab es keine einfache Antwort.
Neiberg ist ein ausgezeichnetes Buch gelungen, das durch Quellennähe und hervorragende Lesbarkeit überzeugt. Mit Gewinn werden es alle jene lesen, die an einer Geschichte der Juli-Krise und des Kriegsbeginns jenseits der gängigen politik-, diplomatie- und militärgeschichtlichen Darstellungen interessiert sind. Solche herkömmlichen Darstellungen können nicht vermitteln, wie groß und erschütternd der Schock war, den Europas Bürger im Sommer 1914 erlebten. Sie mussten einen Krieg ausfechten, den sie nicht gewollt und nicht verschuldet hatten. Ob Soldaten oder Zivilisten - alle Betroffenen waren mit einem Geschehen konfrontiert, das alles bis dahin Vorstellbare auf schlimmstmögliche Art übertraf. Für jeden heutigen Leser ist es beklemmend zu sehen, dass die Zivilgesellschaften der europäischen Staaten 1914 keinerlei Mittel besaßen, um den Regierungen in den Arm zu fallen und den Krieg zu verhindern.
(Hinweis: Diese Rezension habe ich zuerst im Mai 2014 bei Amazon gepostet)