Cover des Buches Der Finder (ISBN: 9783897962217)
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Rezension zu Der Finder von Michael Schreckenberg

Rezension zu "Der Finder" von Michael Schreckenberg

von Ati vor 13 Jahren

Rezension

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Ativor 13 Jahren
Seit Herbst 2010 erscheinen in Zusammenarbeit der Verlage Juhr und gardez! Geschichten aus dem Bergischen Land und dem Rheinland. Eine davon ist der Endzeitroman Der Finder von Michael Schreckenberg. Der in Leverkusen lebende PR-Berater, freie Journalist und Autor schreibt Genre übergreifende fantastische Geschichten zwischen Horror, Science-Fiction, Thriller und Urbanfantasy. Was bereits 1999 entstand und damals eher noch kurz gehalten war, erschien um einiges ausgebaut im November 2010 als Debütroman im Rahmen des eben erwähnten Gemeinschaftsprojekts der oben genannten Verlage. Passend zum Thema ist das Cover des Buches schlicht in schwarz-weiß gehalten. Die Zeichnung zeigt einen altertümlich wirkenden Reiter vor einem kahlen Baum, einigen Felsen und Turmspitzen im Hintergrund. Der Finder hat übrigens nichts mit dem zentralen Bestandteil der grafischen Benutzeroberfläche eines Mac OS-Betriebssystems zu tun. Im Fall von Schreckenbergs Roman handelt es sich dabei um einen Menschen. Der Handlungsort ergibt sich aus dem Verlagsprojekt – es ist das Bergische Land, jedenfalls hauptsächlich. Der Roman spielt über einen Zeitraum von mehreren Monaten in der Gegenwart. Die Figuren sind Otto-Normal-Verbraucher: Keine Helden, keine Überflieger, nur einige Menschen Ende 20, mit normalen Ängsten und Nöten, jedenfalls bis zu einem bestimmten Tag. Kennen Sie das? Lärm macht verrückt, man sehnt sich nach Stille. Der Fotograf Daniel braucht das manchmal. Wenn auch anders, als er es letztlich mehr oder weniger bekommt. Er ist Der Finder, damit die Hauptfigur des Romans und der Erzähler. Daniel fotografiert gerne Friedhöfe und genießt die Stille dort. Zehn Jahre nach seinem Abitur nimmt er an einer Feier teil und verliebt sich Hals über Kopf in Esther, die seine Gefühle prompt erwidert. Sie sucht ihn schneller auf, als er nüchtern werden kann und nicht nur Daniel schwebt im siebten Himmel. Allerdings einem sehr stillen und einsamen Himmel, wie sie bald darauf feststellen. Während sie sich näher gekommen sind, während weniger Stunden nur, sind fast alle Menschen verschwunden. Einfach weg. Nur ein paar ehemalige Schulkameraden, die auf der Abifeier waren, finden sich wieder. Geschockt, entsetzt, verzweifelt, ge-quält von der Frage nach dem Warum. Man landet schon im Prolog quasi ohne Vorwarnung mitten im Geschehen. Die Lektüre des Romanabschnitts, der sich gleich darauf mit dem Entstehen der Situation und den Überlegungen der Überlebenden hinsichtlich ihrer Zukunft beschäftigt, gestaltet sich nicht schwierig, hat aber eine Schwäche: das Tempo. Er wirkt dadurch etwas konstruiert und die getroffenen Entscheidungen nicht unbedingt nachvollziehbar. Genauso schnell wie die Liebe zwischen Esther und Daniel aufflammt, genauso schnell geht es nach der Katastrophe weiter. Keiner rechnet damit, dass von außerhalb Rettungskräfte kommen. So trennt sich die kleine Gruppe. Die einen machen sich auf die Suche nach weiteren Überlebenden, die anderen entscheiden sich, die Stadt zu verlassen, sich ein Domizil auf dem Land zu suchen und einen Neustart zu wagen. Es erscheint wenig nachvollziehbar, dass angesichts des erlittenen Schocks speziell die letzte Entscheidung so schnell getroffen wird. Auch dann nicht, wenn sie von einem ehemaligen Afghanistansoldaten angeregt wird. Andererseits – wer weiß schon, wie man sich in so einer Situation tatsächlich verhalten würde …. Daniel und Esther gehören zu den „Siedlern“. Was überraschend gefasst geplant wird, wird ebenso ruhig und sicher umgesetzt. Die Gruppe findet einen Hof und beginnt sich einzurichten. Sie verharren nicht, handeln überlegt und nehmen im Handumdrehen alles in Angriff. Aus Notgemeinschaften werden bald Beziehungen. Wie bereits erwähnt, wirkt dieser Teil der Geschichte zwar in seinem fatalistisch anmutenden Pragmatismus etwas schwer nachvollziehbar; langweilig oder gar völlig aberwitzig ist er aber nicht. Und der Neuanfang hat durchaus seine Tücken. Berufliches Wissen nützt bei den wenigsten etwas. Hobbys sind nur bedingt von Nutzen. Vorräte sind nur begrenzt haltbar. Was tun ohne Strom, ohne all das, was man als Selbstverständlichkeit voraussetzt, weil es bisher immer da war? Wie produziert man Lebensmittel? Jeder der Überlebenden hat eine oder mehrere Aufgaben zu erfüllen. Es braucht Jäger und Sammler, Köche, Handwerker und Ähnliches. Fotografen wie Daniel braucht niemand mehr. Auf diese Weise wird Daniel Der Finder. Er sucht Dinge, die die Gruppe zum Überleben braucht oder einfach möchte. Und nebenbei (ohne große Hoffnung, aber nie ganz ohne) auch noch Menschen. Schreckenberg hat sich abgesehen von einer nuklearen Katastrophe mit so ziemlich allem beschäftigt, was beim und nach dem Verschwinden fast aller Menschen so passieren könnte. Das wird dem Leser mit Daniel beim Durchstreifen seiner klein gewordenen Welt klar. Spätestens hier gewinnt die Geschichte zunehmend. Kleine Blicke auf das Leben nach der Katastrophe machen immer wieder deutlich, wie sehr der Mensch auf Gewohntes angewiesen ist. Kleine Rückblicke auf die Katastrophe selbst wiederum fokussieren darauf, wie sehr der Mensch seine Umwelt beeinflusst. Wer und was alles von ihm in der von ihm geschaffenen Welt abhängig ist oder was durch den technischen Fortschritt in einer solchen Situation alles geschehen kann. Dabei setzt der Autor nicht auf Schockeffekte wie etwa ein führerloses, abstürzendes Flugzeug, sondern auf den nachträglichen Blick auf eine bereits abgestürzte Maschine. Die Lautlosigkeit, mit der die Menschheit verschwindet, die Leere die sie hinterlässt, wirkt umso mehr durch das Weglassen falscher Dramatikeffekte. Das fantastische Horrorelement ist trotz der omnipräsenten Bedrohung für die Romanfiguren recht dezent im Hintergrund, hier wirkt eher der Horror der abrupten Veränderung der Lebensumstände. Gleichzeitig lässt der Autor Platz für eigene Interpretationen und lenkt teilweise in die Irre, bevor er den Leser wieder auf die Spur führt, auf die er ihn haben will. Bereits dadurch hat er eine düstere und dichte Atmosphäre geschaffen, in die der Leser nach wenigen Kapiteln ganz eintauchen kann; in der er mit den Charakteren mitleidet, hofft und bangt. Er zeigt nicht nur durch Daniels Beobachtungen das unheimliche Glück, das die Siedler hatten. Er zeigt auch, dass Extremsituationen Menschen nicht zwingend positiv ändern; dass sie latente Verhaltensweisen, Gewaltbereitschaft und Machtgehabe herauskitzeln können. Das wird spätestens dann klar, als Daniel tatsächlich andere Überlebende findet. Doch es ist nicht der hart gewordene Alltag, der die schwach keimenden Hoffnungen auf eine Zukunft mehr und mehr zunichtemacht und den anfänglichen trotz aller Widrigkeiten energiegeladenen Pragmatismus in einen kräftezehrenden Determinismus verwandelt. Daran ist auch nicht Erkenntnis schuld, dass nicht jede Gruppe Überlebender ein demokratisches Verhalten wie die Siedler pflegt. Es ist das Wissen, dass die überlebenden Menschen nicht allein sind. Es gibt unheimliche, nicht greifbare Wesen, die sie jagen – bald Nacht für Nacht. Und die Wesen lernen schnell dazu. Hier kommt die Vorliebe des Autors für Romane von Stephen King zum Vorschein und er ist seiner – wenn auch auf andere Art - durchaus würdig. Sukzessive steigert Schreckenberg die Horrorvision, ohne sie wirklich in den Vordergrund zu stellen, und lässt die Möglichkeiten der Menschen mehr und mehr schwinden. Die Erklärung für die Wesen, ebenso wie für das Verschwinden der Menschheit, klärt schlussendlich nicht wirklich das Überleben einzelner, kleiner Gruppen. Das muss es überraschenderweise auch gar nicht und es kann schlicht mit schriftstellerischer Freiheit begründet werden. Doch wie der Anfang des Romans ist auch die Erklärung und mit ihr der Schluss etwas kurz abgehandelt. Dennoch: Der rote Faden wird weder anfangs noch gegen Ende abgerissen, sondern von Schreckenberg zwar schnell, doch überaus konsequent zu Ende gesponnen. Fazit Anfang und Ende werden etwas zu kurz abgehandelt und stehen in keinem wirklich ausgewogenen Verhältnis zur Mitte. Doch das stört nur bedingt, denn gerade der Mittelteil macht einiges wett. Die Tatsache, dass die Geschichte in Deutschland spielt, die Figuren so „normal“ sind und Schreckenberg auf falsche Dramatik und große horrormäßige Schockeffekte verzichtet hat, ohne das Kribbeln im Nacken zu vergessen, lässt seinen Debütroman zu etwas werden, was sich relativ leicht liest. Doch der Roman regt dem ungeachtet auch zum Nachdenken an – über das Menschsein, über die Menschheit. Und abgesehen davon, dass er die Hoffnung darauf weckt, dass etwas Vergleichbares nie eintritt, macht Der Finder eindeutig Lust auf mehr und bekommt vier von fünf Punkten. Copyright © 2011 by Antje Jürgens (AJ)
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