Cover des Buches Abfahrt in den Tod (ISBN: 9783740800512)
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Rezension zu Abfahrt in den Tod von Michaela Grünig

Mit der verbalen Helmkamera

von WolfgangB vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Regional-Whodunnit mit fundierten Einblicken in den Profisport

Rezension

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WolfgangBvor 6 Jahren
Am 22.12.2015 hielten die Zuschauer des Alpinen Ski Weltcup-Slaloms in Madonna die Campilio den Atem an: Nach wenigen Fahrsekunden stürzte eine Kameradrohne hinter dem österreichischen Rennläufer Marcel Hirscher auf die Piste und verfehlte ihn nur knapp.Von diesem Vorfall dürfte der Krimi von Marc Girardelli, selbst ehemaliger Athlet im Weltcupzirkus und seiner Co-Autorin Michaela Grünig inspiriert sein. Im Roman handelt es sich dabei allerdings nicht um einen Unfall, sondern einen gezielten Mordanschlag, als der Schweizer Favorit auf die Kristallkugel im Abfahrts-Weltcup, Marc Gassmann beinahe von einem Fluggerät getroffen wird.
Andrea Brunner, Marcs große Liebe aus Jugendtagen, arbeitet bei der örtlichen Polizei. Ausgerechnet sie wird zu seinem Schutz abgestellt, um sich für höhere diestliche Weihen zu qualifizieren. Um die Geschichte nicht zu beeinträchtigen, wird großzügig auf eine Prüfung auf persönliche Involvierung oder Befangenheit verzichtet, außerdem erweist sich ihr aktueller Ehemann Daniel als geradezu krankhaft eifersüchtig. Mit einer Kraftanstrengung und einigem Knirschen sind also die Weichen für ein erneutes Auflodern der gegenseitigen Zuneigung gestellt.
Wenn sich auch der Roman oft auf einem Grat zwischen Liebes- und Kriminalgeschichte bewegt, rechtfertigt das stilistische Unschärfen nur schwer. Zuweilen sind die Grenzen zwischen Erzählinstanz und inneren Monologen fließend, Umgangssprache wird mit Erzählsprache vermischt, was dem Roman einen zu legeren Ton verleiht, den Stil unnötig an Schärfe und Präzision kostet. Auch scheinen die Autoren zugunsten der Geschichte Kompromisse bei der Glaubwürdigkeit einzugehen. Wenn etwa der Rennläufer Marc gemeinsam mit Polizistin Andrea an den Ermittlungen um die auf ihn verübten Anschläge mitwirkt, so ermöglicht es den beiden zwar, zusätzlich Zeit miteinander zu verbringen, wirkt jedoch nicht sonderlich professionell.
Bei dem vorliegenden Roman handelt es sich jedoch keineswegs um eine Nacherzählung des bekannten Filmes "Bodyguard" (1992) mit anders verteilten Geschlechterrollen. Ganz im Sinne des Whodunnit-Krimis lernen die Leser gemeinsam mit Andrea die verschiedenen Persönlichkeiten in Marcs Umgebung kennen, alle von ihren eigenen Interessen getrieben und somit mit unterschiedlichen Motiven ausgestattet. Dabei werden geschickt Verdachtsmomente erzeugt, falsche Fährten gelegt, also jene Werkzeuge benutzt, die in bewährter Weise Spannung erzeugen und den Leser bei der Tätersuche mitwirken lassen.
Nach und nach werden auch die Gepflogenheiten rund um den Profisport demonstriert, ein Umfeld, das vielen Lesern nicht geläufig sein dürfte. Beispielsweise werden die Grundlagen zahlreicher Sponsorenverträge und Geschäfte beim Stanglwirt, einer High Society-Veranstaltung im Vorfeld des Kitzbühel-Rennens, gelegt. Das Reglement der FIS definiert genau, unter welchen Voraussetzungen eine Piste als Rennstrecke zulässig ist, die mit Steilhängen, Kurven und Flachstücken alle Fähigkeiten der Läufer fordern muß. Der Weltcup selbst wird wie ein moderner Gladiatorenzirkus geführt und von knallharten geschäftlichen Interessen getrieben, ein lebensgefährlicher Sturz im Training ist dabei noch lange kein Anlaß, ein Rennen abzusagen. Hoffnungsvolle Photographen lauern an allen Ecken, und besondere charakterliche Stärke ist von den Sportlern gefordert, wenn sie sich in den Mühlen der Boulevardpresse wiederfinden. Als Seitenhieb zum Thema Doping findet sich ein authentisches Zitat des langjährigen Präsidenten des Österreichischen Schiverbandes auf einer Pressekonferenz 2006 in Turin: "Austria is a too small country to make good doping."
Eine der stärksten Passagen des Romans findet sich gleich zu Beginn, als die respekteinflößende Abfahrt am Wengener Lauberhorn aus der Sicht des Athleten auf der Piste geschildert wird. Marc Gassmann, unschwer als das Alter Ego von Marc Girardelli zu erkennnen, pflegt sein ganz eigenes Ritual vor dem Start, bevor der Adrenalinrausch einsetzt und sich das Sichtfeld zum Tunnelblick verengt. Und dann ... beschleunigt der ungeschützte menschliche Körper innerhalb von wenigen Augenblicken auf 130 Stundenkilometer. Girardelli stürzt sich mit seinen Lesern in eine Fahrt mit der verbalen Helmkamera, wo jede Bodenwelle als Brennen in den Waden zu spüren ist, wo die Ideallinie auf der Strecke ein Kompromiß zwischen schwerem Sturz und Zeitverlust ist, wo in Sekundenbruchteilen nicht nur über Sieg und Niederlage entschieden wird, sondern vor allem, ob man es unversehrt ins Ziel schafft.
Im Zustand äußerster Anspannung nimmt Gassman den Anschlag via Drohne erst im nachhinein wahr kommentiert diesen sarkastisch auf Twitter: "Erhöhter Flugverkehr über Wengen." ... ein kleiner Gruß der Autoren an Marcel Hirscher, der am 22. Dezember 2015 "Heavy air traffic in Italy" twitterte:https://twitter.com/marcelhirscher/status/679401552759676928?lang=de

Persönliches Fazit
"Abfahrt in den Tod" ist ein charmanter Schweizer Regionalkrimi mit vielen romantischen Elementen und detaillierten Einblicken in den Profisport.
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