Cover des Buches Schwarze Jahreszeiten (ISBN: 9783806236637)
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Rezension zu Schwarze Jahreszeiten von Peter Oliver Loew

Bedrückende Rückblicke

von Sikal vor 6 Jahren

Kurzmeinung: Ein beeindruckendes Buch über die Shoah, das Überleben in dieser grausamen Zeit, über das Erinnern aber auch das Vergessen.

Rezension

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Sikalvor 6 Jahren

„Ich erinnere mich daran, wie ich es zum ersten Mal hörte. Gleich zu Beginn des Kriegs, unmittelbar nach der Niederlage. Es kam mir zu Ohren, als man beratschlagte: Werden sie uns im Ghetto einsperren oder nicht? Ich wusste nicht, was dieses Wort bedeutet, war mir jedoch darüber im Klaren, dass es mit einem Umzug zusammenhängt… Und schließlich stellte ich mir vor, dass dieses geheimnisvolle und unverständliche Ghetto ein riesiger vielstöckiger Wagen sei, der durch die Straßen der Stadt fuhr, gezogen von einem Dutzend Pferden.“

Doch Michal Glowinski musste sich relativ rasch von dieser Fantasie trennen, es wurde nicht zu einem faszinierenden Abenteuer - sondern er musste mit seiner Familie grauenhafte Erfahrungen im Warschauer Ghetto und der Zeit danach machen. Erst Jahrzehnte später schafft er es, diese Jahre seiner Kindheit niederzuschreiben und die Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen. Das Buch „Schwarze Jahreszeiten“ erschien bereits von 20 Jahren in Polen, danach ebenso auf Schwedisch, Tschechisch, Italienisch, Englisch – und nun auf Deutsch.

Der Autor Michal Glowinski (geb. 1934) ist Literaturhistoriker, Kritiker, Prosaist und gehört zu den wichtigsten polnischen Literaturwissenschaftlern. Mit diesem autobiographischen Text lässt er uns ein Stück weit an einer menschlichen Katastrophe Anteil nehmen, zeigt die Grausamkeiten des polnischen Antisemitismus und auch den Überlebenswillen oder –kampf der Menschen.

Kurze Episoden aus seiner Kindheit sind in diesem Buch zusammengefügt, teilweise durchzogen von Erinnerungslücken. Wie das bei einem so kleinen Kind nun mal der Fall ist, fehlen Bruchstücke, was er immer wieder betont. Ganz genau schildert er anfangs die Zustände, die Farben des Ghettos, den Keller und auch die Bedeutung des Umschlagplatzes. Die Geschichten über das Törtchen, Bohnen oder das Geigenspiel (nur eine kleine Auswahl) sind sehr beeindruckend beschrieben und machten mich während des Lesens sehr betroffen. Er lernte sehr rasch, dass er nur überleben kann, wenn er nicht auffällt, wenn er seine wechselnden Identitäten verinnerlicht und sich beinahe unsichtbar macht.

„Ich hatte nie vergessen, dass ich so etwas wie ein gehetztes Tier war, das jeder, der wollte, erschießen, zertreten oder auf irgendeine andere Weise auslöschen kann, und sei es die einfallsreichste.“

Man spürt während des Lesens förmlich die Angst, die Eindrücke, mit denen er zu kämpfen hat, der Tod ist allgegenwärtig und immer wieder verschwinden nahestehende Menschen. Das Buch erzählt auch von der Zeit nach der Befreiung durch die Rote Armee, zeigt einen Teil seiner Jugend und den jungen Mann Michal. Als er mit dem Zitat „Auch Deutsche sind Menschen“ konfrontiert wird, beginnt er seine schwierige Beziehung zu Deutschland zu hinterfragen. Er reflektiert seine Begegnungen mit Deutschen, spricht seine Zweifel aus und hinterfragt auch das Vergessen.

Michal Glowinski hat ein beeindruckendes Buch über die Shoah, das Überleben in dieser grausamen Zeit und über das Erinnern aber auch das Vergessen geschrieben. Gerne kann ich hier fünf wohlverdiente Sterne vergeben und spreche eine Leseempfehlung aus.

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