Rezension zu "Richelieu: L'ambition et le pouvoir" von Michel Carmona
Seit mehr als 40 Jahren ist die Richelieu-Biographie von Michel Carmona (geb. 1940) auf dem Buchmarkt verfügbar. Das ist erstaunlich – und überhaupt nicht nachzuvollziehen. Das Buch ist kein bedeutender Beitrag zur Richelieu-Literatur und keineswegs ein zeitloser Klassiker. Carmona, der eine wissenschaftliche Ausbildung als Historiker und Geograph erhielt und lange als Professor für Urbanistik tätig war, hat mehrere Bücher zur Geschichte Frankreichs im 17. Jahrhundert veröffentlicht. Neben der Richelieu-Biographie verdient seine Biographie über Maria von Medici (1981) Erwähnung, die Gemahlin Heinrichs IV. und Regentin während der Minderjährigkeit Ludwigs XIII. Das Richelieu-Buch erschien 1983 im Verlag Fayard. In der großformatigen Broschurausgabe umfasst es 783 Seiten. Fayard hat die Biographie über Jahrzehnte hinweg immer wieder nachgedruckt, stets ohne Überarbeitungen. Der Verlag Tallandier nahm die Biographie 2013 in seine Taschenbuchreihe Texto auf. Eine zweite Auflage erschien 2023. Für die Taschenbuchausgabe wurde der Text neu gesetzt. Der Umfang des Buches erhöhte sich dadurch auf 1.029 Seiten. Es kann nicht nachdrücklich genug betont werden, dass Carmona auch für diese Taschenbuchausgabe keine Überarbeitungen am Text vorgenommen hat. Die Biographie spiegelt nach wie vor den Forschungsstand der frühen 1980er Jahre wider. Das sollte jeder bedenken, der die Taschenbuchausgabe zur Hand nimmt und lesen möchte. Empörenderweise haben Verlag und Autor auch darauf verzichtet, das Literaturverzeichnis zu ergänzen und zu aktualisieren. Es ist eine Frechheit, den Lesern das Buch mit einer Bibliographie auf dem Stand von 1983 anzubieten. In der Taschenbuchausgabe sind die ursprünglich vorhandenen Stammtafeln und Abbildungen nicht enthalten. Übernommen wurden die Landkarten und die detaillierte Chronologie (S. 975-986).
Da ein Anmerkungsapparat (Fuß- oder Endnoten) fehlt, kommt eine Benutzung der Biographie im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit nicht in Frage. Die Darstellung ist in 25 Kapitel gegliedert. Davon entfallen nicht weniger als 13 auf die Zeit vor Richelieus zweitem Eintritt in die Regierung 1624. Die erste Phase von Richelieus Leben und Laufbahn wird somit viel zu ausführlich behandelt. Innen- und Außenpolitik, Krieg und Diplomatie, höfische Intrigen und Komplotte gegen den Kardinal dominieren in thematischer Hinsicht das gesamte Buch. Carmona hat kein Interesse an Richelieus Tätigkeit als Bischof von Luçon und theologischen Schriften. In epischer Breite schildert er Frankreichs erst indirekte und ab 1635 direkte Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg. Mit seiner Fokussierung auf Politik, Krieg und höfisches Geschehen wirkt das Buch altväterlich und angestaubt. In den 1970er und verstärkt in den 1980er Jahren erlebte die Richelieu-Forschung inner- und außerhalb Frankreichs einen kraftvollen Aufschwung. Dank innovativer Fragen erweiterte und veränderte sich unser Bild von Richelieus Persönlichkeit und Wirken. Von diesen innovativen Ansätzen ist bei Carmona überhaupt nichts zu spüren. Das Buch hätte auch vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben worden sein können. Stichwortartig seien die Aspekte genannt, die Carmona im Gegensatz zu anderen Historikern der jüngeren Zeit nicht berührt: Patronage und Netzwerkbildung; Aufbau eines Vermögens; politische Propaganda; Bautätigkeit und Mäzenatentum; Kulturpolitik (z.B. Gründung der Academie française 1634/35); politisches und theologisches Denken. Wer sich mit Richelieu auf der Höhe des gegenwärtigen Forschungsstandes befassen möchte, der sollte – Französischkenntnisse vorausgesetzt – die Biographien von Françoise Hildesheimer (2004) und Arnaud Teyssier (2014) lesen. Beiden Werken ist Michel Carmonas Buch hoffnungslos unterlegen.