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"Platzspitzbaby" erzählt das Leben von Michelle Halbheer und wurde von der Journalistin Franziska K. Müller geschrieben. Das Buch ist bereits 2013 erschienen und erfuhr damals durch seinen tragischen Inhalt eine grosse Bekanntheit: Es geht um das Kind einer drogensüchtigen Mutter. Aktuell läuft eine gleichnamige Verfilmung des Buches im Kino, das die Erzählungen aber nicht 1:1 nacherzählt, aber lose auf Halbheers Erzählungen beruht. Und damit ist das Buch erneut in den Vordergrund gerückt und ich hatte endlich die Gelegenheit, es auch zu lesen.
Auf sehr eindrückliche, tragische Weise erzählt Michelle Halbheer, wie es für sie war, mit einer Mutter aufzuwachsen, die Heroin und Kokain konsumierte und ihrer Erziehungs- und Fürsorgepflicht nicht nachkommen konnte.
Die Geschichte beginnt mit dem Kennenlernen von Michelles Eltern, als ihre Mutter zum damaligen Zeitpunkt als Tänzerin in einer Table Dance Bar in Zürich gearbeitet hatte. Ihr Vater wollte sie aus diesem Umfeld befreien und kurze Zeit später wurde ihr Glück durch die Geburt von Michelle gekrönt. Die darauffolgenden ersten Jahre hat Michelle noch positiv in Erinnerung, doch als sie ungefähr fünf Jahre alt war, musste sie zusehen, wie sich das Wesen ihrer Mutter allmählich veränderte. Erst, als sie Zuhause die Kanüle einer Spritze gefunden und sie ihrem Vater mit einem fragenden Blick vorgelegt hatte, erfuhr die ganze Familie, was sie im Stillen schon lange vermutet hatten: Michelles Mutter war wieder den Drogen verfallen.
Die darauffolgenden Jahre waren von der Sucht geprägt. Michelle musste nicht nur zusehen, wie sich ihre Mutter mit den Drogen allmählich zugrunde richtete, sie erlebte auch immer wieder physische und emotionale Gewalt, bis sich ihre Eltern irgendwann trennten. Eigentlich hatte sie geplant, bei ihrem Vater zu leben, doch ihre Mutter hatte Michelle mit Suizid gedroht, falls sie sich für ihren Vater entscheiden würde. Und so blieb Michelle nichts anderes übrig, als bei ihrer drogensüchtigen Mutter zu bleiben - denn trotz der Drogen, liebte sie ihre Mutter über alles.
Nachdem Michelle mit ihrer Mutter alleine gelassen wurde, folgten weitere Jahre der Gewalt, des Drogenkonsums und der Vernachlässigung. Obwohl Michelle verwahrlost und ungepflegt in der Schule erschien und auch die Polizei immer wieder für Einsätze bei den Halbheers Zuhause erscheinen musste, schien sich niemand wirklich für das Schicksal des Kindes einer Drogensüchtigen zu kümmern; geschweige denn, sie aus diesem toxischen Umfeld zu befreien. Etwas, das Michelle den Behörden heute noch vorwirft - zurecht, wie ich finde.
Und genau das war auch die Botschaft, die Michelle Halbheer mit diesem Buch vermitteln will, denn es gab und gibt immer noch viele Kinder drogensüchtiger Eltern, die ein ähnliches Schicksal erleiden müssen, wie sie. Vernachlässigt von der eigenen Mutter, sich selbst überlassen und im Stich gelassen, von öffentlichen Behörden, die sich eigentlich um das Wohl von Kindern kümmern sollten. Obwohl das Elend auf dem Platzspitz als Drogenumschlagplatz öffentlich bekannt war, sprach niemand über die Kinder der Drogensüchtigen. Ein Fehler, der zukünftig vermieden werden soll. Michelle ist sich sicher, dass es ihr besser ergangen wäre, wenn sie damals fremdplatziert worden wäre. Doch stattdessen wurde sie als Mittel dazu verwendet, dass ihre Mutter dank ihrer Tochter nicht völlig mit ihrem Drogenkonsum abstürzen würde. Eine Verantwortung, die kein Kind für ihre Eltern tragen sollte.
Das Buch schildert sehr eindrücklich einige Stationen aus Michelle Halbheers Leben. Da ich selbst im Suchtbereich tätig bin, kenne ich bisher eher die Seite der Betroffenen - den süchtigen Eltern. Ich fand es deshalb sehr interessant, die andere Perspektive kennenzulernen. Und die ist leider sehr tragisch und erschütternd. Man merkt beim Lesen, welche Spuren diese Erfahrungen auf die inzwischen erwachsene Michelle hinterlassen haben. Hinter ihren Worten stecken viele Vorwürfe und viel Schmerz, ihrer Mutter und den untätigen Behörden gegenüber. Vermutlich wird sie dies alles niemals ganz loslassen können.
Der Schreibstil der Ghostwriterin ist sehr simpel gehalten und hat mich nicht vollends überzeugt. Es werden zwar immer wieder eindrückliche Szenen aus Michelles Leben geschildert, aber zwischen diesen Szenen bzw. Kapiteln gibt es teilweise grössere Zeitsprünge, die dazu geführt haben, dass die Erzählung stellenweise eher oberflächlich bleibt. Ich hätte mir gewünscht, dass das Buch emotional etwas mehr in die Tiefe gehen würde. Vielleicht wäre es einer anderen Autorin (noch) besser gelungen, den Schmerz und die Gefühle von Michelle Halbheer in Worte zu verpacken.
Fazit:
"Platzspitzbaby" erzählt die tragische Geschichte von Michelle Halbheer, die von einer drogensüchtigen Mutter aufgezogen wurde. Ihr Leben war nicht nur durch die Sucht, sondern auch durch physische und emotionale Gewalt geprägt gewesen - und das schlimmste daran ist, dass die Behörden jahrelang tatenlos zugesehen und nicht interveniert haben. Mit diesem Buch will Michelle den Kindern drogensüchtiger Eltern ein Gehör verschaffen und auf ein Missstand hinweisen, vor dem zukünftig nicht mehr die Augen verschlossen werden dürfen: Die negativen Folgen von drogensüchtigen Eltern auf ihre Kinder. Trotz einiger eindrücklicher Szenen, hat mich der Schreibstil der Ghostwriterin aber nicht vollends überzeugt und manchmal hatte ich das Gefühl, dass einige Szenen zu schnell abgehandelt wurden und mehr Tiefe verdient hätten. Dennoch ein wichtiges Buch, das mir noch länger in Erinnerung bleiben wird und von mir deshalb 4 Sterne erhält.